Zum Hauptinhalt springen

Wahl als Weichenstellung für Europa

Von Martyna Czarnowska

Politik

Das Ergebnis der Präsidentenwahl in Frankreich wird für die weitere Entwicklung der Union entscheidend sein.| Die letzten Wahllokale schließen um 20 Uhr, danach sind die ersten Prognosen zu erwarten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Paris/Brüssel. Jean-Claude Juncker redet es schon lange herbei. Die Zuversicht, die Hoffnung und auch der Stolz auf die EU müssen endlich wieder die um sich greifende EU-Verzagtheit ablösen, findet der EU-Kommissionspräsident. Und aus dieser Überzeugung speist sich eine weitere: Marine Le Pen werde nicht die nächste Präsidentin Frankreichs, meinte Juncker schon vor Monaten. Die Befürworter der Gemeinschaft werden sich durchsetzen, Europa sei stärker als die extreme Rechte oder andere Populisten - das betont der Luxemburger immer wieder in Interviews und Auftritten.

Andernfalls würde ein Szenario eintreten, das sich die meisten Politiker, Beamten, Diplomaten und Experten in den EU-Institutionen in Brüssel nicht einmal vorstellen wollen: Rechte Nationalisten übernehmen die Regierungsmacht und treiben die Zerstörung der Europäischen Union voran. Der Front National unter Euro-Gegnerin und EU-Skeptikerin Le Pen würde das wohl gerne vorexerzieren.

Die Präsidentenwahl in Frankreich ist aus europäischer Sicht aber nicht nur deswegen einer der wichtigsten Urnengänge in diesem Jahr, weil das Votum ein Risiko für die Gemeinschaft birgt. Es ist auch eine Chance. Es könnte ebenso der Beginn einer erneuerten europäischen Freundschaft sein.

Für die EU waren die vergangenen Monate eine Zeit voller Zweifel und Sorgen - und die Jahre zuvor waren auch kaum besser. Auf die Finanz- und Schulden- folgte die Flüchtlingskrise. Nach dem Brexit-Referendum ist die Union nun mit dem Austrittswunsch eines Mitglieds konfrontiert. Die Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten lässt viele Fragen nach der Gültigkeit und Form der transatlantischen Partnerschaft offen. Der Umgang mit Russland oder der Türkei ist ebenfalls alles andere als einfach. In den EU-Staaten selbst stieg vor jedem Urnengang die Nervosität der EU-Sympathisanten: Würde in Österreich ein FPÖ-Politiker, in den Niederlanden eine rechtspopulistische Partei gewinnen? Die Anhäufung von Schwierigkeiten, die sich über Jahre ziehende Poly-Krise ließ das Vertrauen vieler Bürger in die EU sinken.

Negative Stimmung drehtsich langsam

Dennoch scheint sich die Stimmung in der öffentlichen Debatte nun langsam zu ändern. Vielleicht waren die Menschen der vielen Krisen und der häufigen Rede davon müde, vielleicht reifte aber auch die Überzeugung heran, dass die Herausforderungen von innen wie außen gemeinsam besser zu bewältigen sind. Im EU-Schnitt sieht sowieso der größere Teil der Bevölkerung die Mitgliedschaft ihres Landes in der Union positiv. Und EU-Politiker streichen in ihren Auftritten nun ebenfalls mehr und mehr die hellen Seiten der Gemeinschaft hervor. Die Deklarationen, dass die Mitglieder nun wieder enger zusammenrücken müssen, häufen sich.

Ob sie mit Leben erfüllt werden können, hängt aber eben nicht zuletzt vom Ausgang der Wahl in Frankreich ab. Zwar steht in Deutschland, größte Volkswirtschaft in der EU und auch politisch eine der mächtigsten Triebkräfte, im Herbst ebenfalls ein wichtiger Urnengang an. Doch ist der Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel keineswegs ein Europa-Feind. Als EU-Abgeordneter und -Parlamentspräsident hatte Martin Schulz oft genug gegen Kleinstaaterei und nationale Egoismen gewettert.

Damit aber das deutsch-französische Duo, das vor Jahrzehnten schon die Fundamente für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit gelegt hatte, der EU dann den nötigen neuen Schwung verleihen kann, braucht die Regierung in Berlin das entsprechende Pendant in Paris.

Marine Le Pen kann es nicht sein. Immerhin will die Politikerin Frankreich aus der Euro-Zone führen und droht sogar mit einer Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes.

Lieblingskandidat abseitsder großen Parteien

Aber auch der Kandidat auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums wäre aus der EU-Perspektive nicht unbedingt bequem: Der Bewerber der Linken, Jean-Luc Melenchon, würde gern zunächst einmal den EU-Stabilitätspakt für mehr Haushaltsdisziplin kündigen und dann generell einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik der Union initiieren. Falls sich - vor allem - Deutschland dem widersetzen würde, schließt auch Melenchon ein EU-Referendum nicht aus.

Jedoch sind selbst die Vorstellungen der Kandidaten der großen Fraktionen nicht völlig im Gleichklang mit denen ihrer Parteienfamilien in der EU. Der Konservative François Fillon beispielsweise setzt mehr auf Protektionismus und eine Stärkung der Nationalstaaten, als es so manch anderem Christdemokraten lieb wäre. Im Umgang mit Flüchtlingen und Migration plädiert er für Grenzsicherung und Abschottung.

Der Sozialdemokrat Benoit Hamon wiederum ist ein erklärter Gegner von Freihandelsabkommen, wie sie die EU etwa mit Kanada geschlossen hat. Und seine wiederholte Kritik an der langjährigen Sparpolitik der Europäischen Union nährt Befürchtungen, dass Frankreich notwendige Reformen weiter hinauszögert.

Bleibt noch Emmanuel Macron, der zumindest den EU-Institutionen zum Lieblingskandidaten geworden ist. Der ehemalige Wirtschaftsminister, der seine eigene Bewegung gegründet hatte, fand lobende Worte für Merkels Flüchtlingspolitik, sprach sich für mehr europäische Integration aus und kündigte an, sich an die Vorgaben zur Senkung des Budgetdefizits zu halten. Ob er dafür nach einem Wahlsieg im Parlament in Paris die ausreichende Unterstützung erhält, ist freilich noch unklar.

In allen Fällen aber stehen die Franzosen vor einer fundamentalen Entscheidung: Wie offen soll ihr Land sein? Und das Ergebnis wiederum wird für die weitere Entwicklung der Europäischen Union wesentlich sein - ob bei der Migration, der Wirtschafts- oder Verteidigungspolitik. Der "Grad der Offenheit" sei so zur zentralen Frage dieser Wahl geworden, auch für Europa, schreibt Yann-Sven Rittelmeyer von der in Brüssel ansässigen Denkfabrik EPC (European Policy Centre) in mehreren Diskussionsbeiträgen. "Ein Wahlsieg Le Pens würde Frankreich isolieren, mit dramatischen Konsequenzen für das Land wie für die EU", stellt der Politologe fest. Im umgekehrten Fall könnte Macron die protektionistischen Tendenzen in Frankreich umkehren und eine Möglichkeit "für die europäischen Partner, die ihre Zusammenarbeit in einigen Bereichen vertiefen wollen" eröffnen.

Die Hauptakteure bei dieser Kooperation wären erneut Paris und Berlin. Wie viele andere Experten sieht Rittelmeyer das deutsch-französische Tandem als richtungsweisend für die Gemeinschaft an.

Berlin wird seine Ambitionen anpassen müssen

Dennoch wird auch dieses Duo nicht alle Hoffnungen der Befürworter einer starken EU erfüllen, selbst wenn die Gefahr einer rechtspopulistischen Wende in Frankreich gebannt wäre. "Macrons Wahlsieg würde Deutschland für gewisse Zeit Erleichterung verschaffen, aber die politische und moralische Krise in Frankreich wird nicht nach der Wahl einfach verschwinden", schreibt Rittelmeyer. Die künftige Regierung in Berlin werde dem Rechnung tragen - und ihr Verhalten sowie ihre Ambitionen daran anpassen müssen.

In Frankreich wird der Staatspräsident alle fünf Jahre direkt vom Volk gewählt. Stimmberechtigt sind alle Franzosen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Theoretisch kann jeder, der volljährig und im Besitz der bürgerlichen und politischen Rechte ist, das Amt bekleiden. Der Gewinner der Wahl, die mit dem ersten Durchgang am 23. April beginnt und mit der Stichwahl am 7. Mai endet, wird das achte Staatsoberhaupt der Fünften Französischen Republik seit 1959.

Eine Wiederwahl ist beliebig oft möglich, allerdings dürfen höchstens zwei Amtszeiten aufeinander folgen. Vor 2000 dauerten diese jeweils sieben Jahre.

Die bisherigen Präsidenten:

Charles de Gaulle (1959 bis 1969),

Georges Pompidou (1969 bis 1974),

Valery Giscard d’Estaing (1974 bis 1981),

François Mitterrand (1981 bis 1995),

Jacques Chirac (1995 bis 2007),

Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012),

François Hollande (seit 2012).

Wissen

Informationen zum Wahlergebnis finden Sie am Sonntag unter:

www.wienerzeitung.at/frankreich

In Frankreich haben die Wahllokale seit 08.00 Uhr offen, die letzten schließen um 20.00 Uhr, danach werden erste Hochrechnungen erwartet. Mit ausschlaggebend bei dieser Abstimmung könnte das Maß der Enthaltungen sein. Kurz vor der Wahl zeigte sich noch rund ein Drittel der Wähler unentschlossen. Das wäre ein neuer Höchststand.

Live-Ticker auf "Libération"