Ex-Orbán-Intimus Tamás hält parlamentarischen Weg nicht immer für sinnvoll und fordert "gewaltlose Revolution"
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der Philosoph und Publizist G.M. Tamás war einer der wichtigsten Oppositionellen gegen das kommunistische Regime und ist heute kritischer Intellektueller in Ungarn. Geboren 1948 im siebenbürgischen Cluj (Kolozsvár/Klausenburg), floh er aus Ceausescus Rumänien 1978 nach Ungarn, wo er später wegen seiner offenen Kritik am Marxismus Berufsverbot hatte. Er lehrte zeitweise in den USA, Großbritannien und Frankreich. Heute opponiert er offen gegen seinen früheren politischen Weggefährten, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
"Wiener Zeitung": Ist Ungarn auf dem Weg in eine Diktatur?
G.M. Tamás: Wir sind schon da. Es ist zwar keine stalinistische Diktatur. Aber alles wird komplett von den Rechten beherrscht. Es gibt eine Zivilgesellschaft, eine beschränkte kritische oppositionelle Öffentlichkeit wie in den späten 1980er Jahren. Man kann die Regierung in den Zeitungen oder bei Kundgebungen kritisieren, aber es hat keinen Effekt. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat nämlich keine vertrauenswürdigen Informationen über die politischen Prozesse. Nur in den Großstädten, etwa in Budapest, sind die Menschen informiert. Die großstädtische Jugend liest Zeitungen und Websites, hört Radiosender der Opposition. Aber in der Provinz gibt es nur zwei Informationsquellen: das staatliche Kossuth-Radio und die Lokalblätter - das sind Springer-Zeitungen. Darin ist gar nicht von nationaler Politik die Rede, es geht nur um lokale Themen, die Protestdemos in Budapest werden humoristisch geschildert. Diese Zeitungen verteidigen die Regierung nicht, aber sie schweigen darüber. So kommt es, dass neun Millionen Ungarn keine Ahnung haben, was los ist - wirklich keine Ahnung! Dies war ja auch Ziel von Orbáns Mediengesetz - und es ist gelungen. Inzwischen ist Orbáns Partei Fidesz sogar beliebter geworden - und zwar durch kleine soziale Maßnahmen, die zwar ökonomisch ganz unbedeutend waren, aber als sympathische Gesten herübergekommen sind. Zugleich ist meiner Meinung nach die Strategie der Opposition gescheitert.
Worin bestand denn die Strategie der Opposition?
Es war die ganz traditionelle parlamentarische Opposition, durch kritische Pressemitteilungen. Sie haben so getan, als wäre alles normal. Diese leise, friedliche Form ihrer Kritik hatte keine Logik. Die Opposition war nicht imstande, ihre Strategie an die Natur ihres Gegners anzupassen. Ich habe keine Hoffnung mehr, dass der normale parlamentarische Weg funktioniert. Auch die Warnungen davor, dass die Fidesz-Politik dem internationalen Prestige Ungarn schade, nützen nichts. Das interessiert niemanden.
Bleibt dann nur noch eine Revolution als Lösung übrig?
Dies kann kein Ziel darstellen, aber es wird wohl das Ergebnis sein. Fidesz wird bei den nächsten Wahlen wieder eine Zweidrittelmehrheit bekommen. Das neue Wahlgesetz ist so angelegt, dass ein Sieg der anderen Parteien ganz unmöglich ist. Außerdem hat die Regierung schon gesagt, dass sie die Listen der wahlberechtigten Ungarn mit doppelter Staatsbürgerschaft aus den Nachbarländern nicht veröffentlichen wird. Dies wird ein bedeutendes unkontrollierbares Element werden. Sie könnten die Wahlen fälschen. Ich habe keinen Zweifel, dass sie es tun werden, wenn sie meinen, dass sie es brauchen. Aber sie werden es nicht brauchen - und dies, obwohl 85 Prozent der Bevölkerung sagen, dass die Dinge in die falsche Richtung laufen.
Die Opposition ist zu schwach, die Leute sehen darin keine Alternative. Darum habe ich bei der letzten Großkundgebung in Budapest gesagt, dass man die Wahlen boykottieren soll, dass die Abgeordneten ihre Mandate niederlegen sollen. Die Parteien sollten der Zivilgesellschaft folgen, ohne diese führen zu wollen. Man sollte eine neue demokratische Bewegung ohne Parteispitze aufbauen und den Widerstand organisieren. Man muss verstehen, dass man durch den normalen parlamentarischen Weg, durch Wahlen, nichts Wesentliches verändern kann. Man soll friedlich und gewaltlos eine Revolution starten - so wie man das damals im Kosovo getan hat, durch die Gründung paralleler Institutionen. Es gibt wirklich Beispiele in der Geschichte dafür, wie man das friedlich, mit viel Energie und Fantasie machen kann. Natürlich gibt es Situationen, wo man durch Wahlen etwas verändern kann. Aber das ist in Ungarn jetzt nicht der Fall.
Was sagt die bereits etablierte Oppositionsbewegung des früheren Ministerpräsidenten Gordon Bajnai dazu?
Herr Bajnai hat ja schon erklärt, dass er mit mir nicht einverstanden ist, dass er auf die Wahlen setzt. Was kann er schon sagen? Aber ich glaube, damit sollte man keine Zeit verlieren.
Ist die Facebook-Protestbewegung Milla eine gute Ausgangsbasis?
Nein, Milla ist ja schon halb in einer Wahlinitiative. Nein, ich glaube eher an die große Menge von linken jungen Leuten in der Studentenbewegung. Sie haben sehr intelligent und sympathisch ihren Widerstand organisiert. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich als einziger alter Herr von ihnen gebeten wurde, Reden zu halten. Sie sind nicht prinzipiell gegen den parlamentarischen Weg, aber sie denken, er taugt momentan nicht. Und ich denke, sie haben recht. Man sollte diese Mobilisierung aufrechterhalten und Druck ausüben. Wir haben das schon vor 1989 erfolgreich in Ungarn gemacht, mit Komitees, Clubs und Bewegungen. So haben wir damals den friedlichen Übergang zur demokratischen Gesellschaft herbeigeführt.
Damals, in den späten 1980er Jahren, haben Sie auch Viktor Orbán kennengelernt ...
Ja, wir sind damals hier in dieser Küche zusammengesessen. Wir waren gute Freunde.
Wie kam das?
Wir waren beide liberal. Heute sind wir es beide nicht mehr. Er ist nach rechts, ich bin nach links gegangen.
Wie erklären Sie Orbáns Entwicklung?
Seine Entwicklung ist wirklich sehr banal. Ich kenne ihn sehr gut, er ist sehr intelligent, das muss man zugeben. Er liest, er ist viel gebildeter, als man glaubt, er hat privat viel Humor. Aber wie viele Politiker ist er von der Macht vergiftet. Er hat verstanden, dass man mit der Wiederbelebung der autoritären Traditionen - die er, glaube ich, privat verachtet - Erfolg haben kann in der ungarischen Politik. Das hat er gewissenlos und verantwortungslos ausgenutzt. In diesem machiavellistischen System ist er der Fürst.
Aber wie war Orbán damals, vor 1989?
Er hat mich mit seinem Körper vor prügelnden Polizisten geschützt. Das war im Juni 1988, bei einer Demo. Damals war ich auch ein Kundgebungsredner, wie heute.
Jetzt haben Sie durch Orbáns neue Kulturpolitik ihren Job am Philosophischen Institut verloren.
Ja, ich bin zwangsemeritiert worden. Ich bekomme aber noch keine Pension - und wenn ich sie bekomme, wird sie sehr niedrig sein, weil ich zu wenig Arbeitsjahre habe. Als Dissident vor 1989 hatte ich Berufsverbot. Meine Rente wird etwa 16.000 Forint (circa 53 Euro) betragen, das wird für die Heizkosten reichen.
Wovon leben sie jetzt?
Das ist variabel. Von Honoraren, Stipendien manchmal. Ich werde überleben. Schließlich habe ich auch unter Nicolae Ceausescu und János Kádár überlebt.
Warum braucht Orbán die Nähe zu Rechtsextremisten? Sein Freund, der Publizist Zsolt Bayer, bezeichnet Roma als "Tiere".
Er braucht ihre Stammwähler, weil die im Zweifel für ihn stimmen werden. Vor allem braucht er aber die rechte Intelligenzija. Die rechten Intellektuellen sind mehrheitlich rechtsradikal. Orbán braucht diese Schlägertypen. Leute wie Zsolt Bayer gibt es zu Hunderten. Das sind Schläger, ich kann es nicht anders sagen. Diese Leute würden ihn nicht mehr unterstützen, wenn er nicht so nationalistisch wäre.
Gibt es keine Hoffnung, dass irgendwann die eigenen Leute gegen Orbán rebellieren?
Das wäre schlimmer, weil diese Leute, die jungen Karrieristen unter ihm, weniger intelligent sind als er. Sie sind außerdem nicht gegen den Rechtsradikalismus geimpft. Orbán nützt die Allianz mit den Rechtsextremisten aus, aber er selbst ist kein Faschist. Und solche Spekulationen über mögliche Palastrevolutionen gegen Orbán interessieren mich nicht. Als aufrechter Demokrat meine ich, dass das ungarische Volk selbst die Verhältnisse verändern soll.
Sind die Ungarn frustriert von der EU-Politik?
Europa ist in Ungarn kein Thema, ist nie eines gewesen.
Zur Person
Gáspár Miklós Tamás
beteiligt sich während des demokratischen Übergangs 1989 an der Gründung der linksliberalen Partei SZDSZ und wird Abgeordneter. Ende der Neunzigerjahre verlässt er den SZDSZ, wird Marxist und wandelt sich zum radikalen Kapitalismuskritiker.