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In Ägypten beginnen am Sonntag die immer wieder verschobenen Parlamentswahlen. Sie ziehen sich bis in den Dezember hin.
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Kairo. Nach Wahlkampf sieht es in Kairo nicht aus. Der Tahrir-Platz, Ikone des sogenannten Arabischen Frühlings und Sammelplatz jeglicher politischen Bewegungen seit dem Frühjahr 2011, ist fast verwaist. Nichts erinnert mehr an die Zeiten, als hier Hunderttausende für die Absetzung ihres Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak demonstrierten, ihren ersten frei gewählten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi bejubelten und schließlich Generalfeldmarschall Abdul Fatah al-Sisi legitimierten, gegen die Muslimbrüder vorzugehen, die er Terroristen nennt. Hier fanden Straßenschlachten statt, wurden Zelte aufgebaut, politische Kundgebungen abgehalten. Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2011 prangten bunte Wahlplakate auf dem Platz, manchmal mehrere übereinander. Kandidaten kamen zum Tahrir, um ihre Positionen zur Diskussion zu stellen. Oft wurde bis zum frühen Morgen gestritten.
Die Angst ist zurück
Heute weht eine riesige ägyptische Fahne dort, wo einst die Zelte standen. Rings herum sind Rasen und einige Pflanzen entstanden. Der Tahrir-Platz ist zur Gleichgültigkeit mutiert. Wenige Touristen verirren sich noch hierher, um sich die atemberaubenden Ereignisse zu vergegenwärtigen. Die Ägypter selbst hasten zur U-Bahn oder stehen in Autoschlangen, um ihre Fahrzeuge in die Tiefgarage zu fahren, die unter dem Tahrir-Platz entstanden ist. Keiner von ihnen verharrt mehr im Gedenken an die Zeit, als die Nilbewohner ihre Angst überwunden hatten, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollten und das Land ein anderes zu werden schien. Inzwischen ist die Angst zurückgekehrt und ist noch größer denn je, wie viele Ägypter hinter vorgehaltener Hand sagen. Niemand sagt mehr offen seine Meinung, politische Diskussionen finden im öffentlichen Raum nicht mehr statt, und sobald ein Mikrofon auftaucht, verstummen die Angesprochenen sofort.
Kein Parlament seit 2012
In diesem Klima finden ab kommendem Sonntag nun die schon lange erwarteten, aber immer wieder verschobenen Parlamentswahlen statt. Das Land ist seit Sommer 2012 ohne Volksvertretung, als das Verfassungsgericht das zuvor gewählte Repräsentantenhaus auflöste. Ursprünglich sollte nach dem Sturz Mursis sofort ein Parlament gewählt werden und danach ein neuer Präsident. Doch al-Sisi entschied anders. Zuerst wollte er sich zum Staatschef wählen lassen, danach sollte über die Volksvertretung abgestimmt werden. Ein für Demokratien undenkbarer Schritt, doch an eine Demokratisierung Ägyptens glaubt mittlerweile ohnehin niemand mehr. Mit dem Verweis auf die instabile innenpolitische Situation wurden die Wahlen mehrfach angekündigt und immer wieder verschoben: zunächst für Frühjahr 2013, dann für Herbst 2013, dann für 2014, dann für Frühjahr 2015 und dann für Sommer 2015.
"Vielleicht hängen die im nächsten Monat ein paar Plakate hier auf", antwortet ein Passant am Tahrir-Platz auf die Frage nach der Wahlwerbung und möchte auf keinen Fall seinen Namen nennen. "Aber das nützt dann auch nichts mehr, es ist sowieso schon alles entschieden." Der Urnengang findet in drei Etappen statt. Am Sonntag und Montag wird in 14 von insgesamt 27 Provinzen gewählt, der Rest wählt einen Monat später. Dazu zählen Kairo und der Tahrir-Platz. Giza, am linken Nilufer bei den Pyramiden, wählt jetzt. Dort leben besonders viele Islamisten, die man anscheinend im Auge behalten will. Genauso in Alexandria, der Metropole am Mittelmeer. Unweit der Vier-Millionen-Stadt haben die Muslimbrüder ihren Gründungskongress vor über 80 Jahren abgehalten, sind die Salafisten mit ihrem Hauptquartier vertreten und sitzt Mohammed Mursi im Gefängnis. Die Muslimbrüder sind als Partei zwar verboten, die salafistische Nur-Partei ist jedoch zu den Wahlen zugelassen. Das Wahlverhalten Alexandrias wird also ganz besonders von den Herrschenden in Kairo unter die Lupe genommen werden. Sollten die beiden Wahltermine keine eindeutigen Mehrheiten ergeben, findet Anfang Dezember eine Stichwahl statt. "Wählen, bis es passt", nennt der Tahrir-Passant den Wahlmarathon.
Neues Wahlgesetz
Damit es passt, wurde das Wahlgesetz geändert. Nicht mehr Parteien sind die Hauptkomponenten für diesen Urnengang, sondern Direktkandidaten. Nur 20 Prozent der über 500 Sitze im neuen ägyptischen Parlament werden über Parteienlisten vergeben. Die Folge ist ein erbitterter Kampf in den ohnehin wenigen Parteien um Listenplätze. Den Zusammenbruch des ägyptischen Parteiensystems kommentiert Nabil Zaki, Sprecher der oppositionellen Tagammu-Partei das, was derzeit in Ägypten geschieht. Auf die 286 Parlamentssitze, für die in den nächsten Tagen gewählt wird, bewerben sich ganze sechs Parteienkoalitionen und 2573 unabhängige Kandidaten.