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Wahlen im Zeichen der großen Frustration

Von Martyna Czarnowska aus Zagreb

Europaarchiv

Regierungspartei stolpert über Wirtschaftskrise und Korruption.


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Zagreb. Marko nimmt die Zigarettenschachtel in die Hand, um seine Worte zu verdeutlichen. "Wir sind wie ein kleines Kind, das erstmals ein Spielzeug bekommen hat", sagt er. Er umfasst die Schachtel mit beiden Händen und schmiegt diese an seine Wange. "Am liebsten würden wir es am Abend mit uns ins Bett nehmen und nicht mehr loslassen. Wir möchten es gar nicht mehr hergeben."

Was der 45-jährige Kroate mit der Bedeutung des Spielzeuges für das Kind vergleicht, ist die Haltung etlicher seiner Landsleute zu ihrem Staat. "Wir haben ein unabhängiges Land seit 20 Jahren, und erst seit 16 Jahren ist der Krieg vorbei", erklärt Marko. "Wir wollen uns nicht schon wieder von jemandem sagen lassen, was wir zu tun haben." Und so kommt der Unternehmer auf die Europäische Union zu sprechen, deren Mitglied Kroatien in gut eineinhalb Jahren werden soll. Kommende Woche wird in Brüssel der Beitrittsvertrag unterschrieben.

Auch wenn die Mehrheit der Kroaten bei einem Referendum in einigen Wochen die EU-Mitgliedschaft wohl unterstützen wird, gibt es doch Vorbehalte. Die Sorgen vor einem "Diktat aus Brüssel" gehören ebenso dazu wie Befürchtungen, dass die Wirtschaft des Landes mit seinen knapp 4,5 Millionen Einwohnern auf dem europäischen Markt nicht wettbewerbsfähig sein könnte.

Dennoch haben die Parteien nur wenig getan, um die Menschen über die EU zu informieren - auch wenn sie in dem nun zu Ende gehenden Wahlkampf die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Und auch wenn es im Sinne aller größeren Parteien wäre: Sie sprechen sich für die Mitgliedschaft aus - sowohl die regierende konservative HDZ (Kroatische Demokratische Union) als auch das oppositionelle, Kukuriku getaufte Vier-Parteien-Bündnis unter Führung der Sozialdemokraten, das Umfragen zufolge bei der Parlamentswahl am Sonntag den Sieg davontragen wird. Allerdings überschatteten andere Themen die Kampagne vor dem Urnengang, auf die nur wenige Tage später die Unterzeichnung des Beitrittsvertrags folgt.

Wirtschaft und Korruption - davon war im Wahlkampf viel die Rede, mehr als zuvor. Denn erst jetzt wird vielen das Ausmaß der ökonomischen Krise bewusst. Kroatien schlitterte in eine Rezession und erholt sich nur langsam davon. Heuer wird das Wirtschaftswachstum nicht einmal ein Prozent betragen. Eine hohe Arbeitslosenrate gibt es zwar schon seit längerem, doch mittlerweile ist fast jeder fünfte Mensch ohne Job. Das Budgetdefizit liegt bei etwa fünf Prozent und die Auslandsverschuldung bei hundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts: Die Schulden belaufen sich auf mehr als 46 Milliarden Euro.

Leben auf Kredit

Das ganze Land hat jahrelang auf Kredit gelebt. Seit 1993 investierten ausländische Unternehmen fast 25 Milliarden Euro in die kroatische Wirtschaft, ein Viertel davon kam aus Österreich. Doch im Vorjahr sind die ausländischen Direktinvestitionen auf ein Achtzehntel des Wertes von 2008 eingebrochen. Auf der anderen Seite wurden so gut wie gar keine Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft ergriffen.

"Das Geld aus dem Ausland hat viele Strukturschwächen überdeckt", erläutert Roman Rauch, Delegierter der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) in Zagreb. Die meisten Investitionen gingen aber nicht in die Produktion, was beispielsweise Arbeitsplätze geschaffen hätte. Ein Großteil der Mittel waren etwa Geldüberweisungen von Banken an ihre Töchterhäuser in Kroatien. Vieles von dem Wachstum sei daher über Kredite gegangen - bis das Geld nicht mehr floss, sagt Rauch. Mittlerweile könne jede dritte Baufirma, jeder fünfte Einzelhändler und jeder elfte Bürger seine Kreditraten nicht mehr oder nicht regelmäßig bezahlen. Allein die Bauwirtschaft hat sich im Raum Zagreb von 2008 bis 2010 halbiert, und insgesamt sind in den letzten zwei Jahren an die 150.000 Jobs verloren gegangen - fast alle in der Privatwirtschaft.

Dabei müsste es im öffentlichen Bereich massive Kürzungen geben. 65.000 Menschen sind in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt, tausende weitere kommen in lokalen Behörden dazu. Mehr als 80 Prozent des Budgets sind gebunden an Gehälter im öffentlichen Dienst, Sozialabgaben, Pensionen, Beihilfen für Kriegsveteranen. Doch schrecken die Parteien davor zurück, vor Wahlen von Sparmaßnahmen zu reden.

Die nächste Regierung hat viel Arbeit vor sich. Und sie müsse so schnell wie möglich damit beginnen, die bisher versäumten Reformen einzuleiten, meint Sandra Svaljek, Leiterin des Ökonomischen Instituts Zagreb (EIZ). "Es gibt so viele Bereiche, die nicht funktionieren: der Arbeitsmarkt, staatliche Hilfen, die Finanzpolitik", erklärt sie. Das Wirtschaftssystem sei neu zu strukturieren. Denn es gebe noch immer alte unrentable Unternehmen, die vom Staat subventioniert werden. Und andererseits habe das Land den europäischen Märkten nicht viel anzubieten: Die kroatischen Waren und Dienstleistungen sind nur bedingt wettbewerbsfähig.

Kroatien müsse sich reindustrialisieren, stellt Svaljek fest. Der Staat müsse ein unternehmerfreundliches Klima schaffen. Denn Unternehmer hätten nicht nur bürokratische Hürden zu bewältigen - wie dutzende Genehmigungen einzuholen oder sich in dem Wulst an oft geänderten Gesetzen zurechtzufinden -, sondern fühlten sich auch ungeschützt, wenn sie etwa ihre Zahlungsforderungen nicht durchsetzen können. "Der Staat muss zu einem Partner für die Wirtschaft werden", sagt Svaljek.

Doch bisher sorgten die Verbindungen zwischen Regierung und Wirtschaft eher für negative Schlagzeilen. Politikern wird Korruption vorgeworfen; Ermittlungen laufen gegen die regierende HDZ wegen illegaler Parteikassen, in die aus staatlichen Unternehmen abgezweigte Mittel geflossen sein sollen. Ex-Premier Ivo Sanader steht wegen des Vorwurfs der Korruption und des Kriegsgewinnlertums vor Gericht. Etliche Funktionäre der HDZ, die mit einer kurzen Unterbrechung seit fast 20 Jahren an der Macht ist, profitierten von Privatisierungen und der Anziehungskraft Kroatiens für ausländische Investoren. Auch das wird die HDZ unter Ministerpräsidentin Jadranka Kosor Stimmen kosten.

Gespaltene Gesellschaft

"Die Korruption und die Wirtschaftskrise sind Gründe dafür, dass die HDZ für die Wähler ihre Legitimität verloren hat", befindet Nenad Zakosek, Dekan des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zagreb. Zudem habe die Partei im Laufe der Jahre ein weit verzweigtes Klientelsystem aufgebaut: Posten im öffentlichen Dienst wurden mit Freunden und Parteigängern besetzt, Teile der Bevölkerung mit staatlichen Zuschüssen versorgt. "Kroatien ist eine Nachkriegsgesellschaft", erklärt Zakosek. "Es gibt Rückkehrer, Kriegsveteranen, Witwen." Und sie alle bekämen besondere Zuwendungen vom Staat. Doch dieses System lasse sich nicht mehr finanzieren. Mittlerweile würden laut dem Politologen viele Bürger das gesamte Regierungsmodell hinterfragen.

So kommt zu dem ökonomischen auch ein tiefer politischer Frust hinzu. Im Frühling drückte er sich in zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen aus: In vielen Städten des Landes gingen tausende Menschen auf die Straßen. Getragen wurden die Proteste von unterschiedlichen Gruppen: Junge Menschen verlangten nach Jobs, Gewerkschafter prangerten Entlassungen an. Kriegsveteranen protestierten gegen die gerichtliche Verfolgung von Befehlshabern, die in Kroatien als Helden gelten, aber international wegen Kriegsverbrechen angeklagt sind. Beim Votum am Sonntag könnte sich der Unmut in einer geringen Wahlbeteiligung niederschlagen.

"Die Leute haben das Gefühl: Wir haben gekämpft, protestiert, Unterschriften gesammelt, doch es wird nicht besser", meint Jelena Berkovic von der Nichtregierungsorganisation GONG, die sich mit demokratischen Prozessen befasst. Noch dazu sei die kroatische Gesellschaft gespalten: Einer kleinen, reichen Elite steht der Großteil der Bevölkerung gegenüber, der sich Monat für Monat irgendwie durchschlagen muss. Eine Mittelklasse ist fast gar nicht vorhanden; das Durchschnittsgehalt beträgt an die 700 Euro, eine Pension oft nur die Hälfte davon. Hinzu kommen regionale Unterschiede: Die dalmatinische Küste oder Istrien sind wegen der Einnahmen aus dem Tourismus wohlhabender als andere Gebiete.

Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen sei jedenfalls stark gesunken, erläutert Berkovic. Laut einer Untersuchung vertraut nur jeder vierte Kroate dem Parlament, und nicht einmal jeder dritte hat Vertrauen in die Regierung. Auch deshalb dürften viele Wähler nun auf das oppositionelle Linksbündnis und damit einen Machtwechsel setzen: Die Sozialdemokraten, die nur wenige Jahre den Premier stellten, sind nicht von so vielen Skandalen berührt.

Allerdings müsste die künftige Regierung unter Beweis stellen, dass sie Kroatien tatsächlich aus der Krise führen will. Und wenn sie ernsthaft daran arbeitet, würden viele Bürger sogar Sparmaßnahmen mittragen, glaubt Berkovic. "Die Menschen haben das Gefühl, dass sie nicht mehr viel zu verlieren haben."