Verhaltensökonom John List weiß, wie man Nichtwähler dazu bewegt, ihre Stimme abzugeben, und warum wir uns nicht so rational verhalten, wie die klassische Ökonomie annimmt.
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Wien. Während andere Ökonomen die Zahlen zu sich ins Büro kommen lassen, um daraus ihre Modelle zu bauen, erhebt John List seine eigenen Daten: Der Verhaltensökonom führt Feldexperimente in der realen Welt durch, um zu verstehen, wie Menschen handeln und wie man ihre Verhaltensmuster brechen kann.
"Wiener Zeitung": Ernähren sich Ihre Kinder gesund?
John List: (lacht) Nein. Aber ich denke, dass sie sich ungesünder ernähren würden, wenn sie einen anderen Vater hätten.
Was unterscheidet Sie von anderen Vätern?
Ich mache Experimente mit meinen Kindern. Ich setze verschiedene Anreize - monetäre und nicht-monetäre - und evaluiere dann, wie die Kinder darauf ansprechen. Die meisten Väter sind nicht so konsequent. Sie probieren so etwas höchstens ein, zwei Mal aus und geben dann auf.
Solche Anreize wirken doch nur kurzfristig, oder?
Nicht, wenn man sie richtig einsetzt. Wenn mein Sohn Mason zu viel Schokolade isst, muss ich zuerst herausfinden, warum er das tut und wie ich ihn dazu bringe, weniger davon zu essen. Dann kann ich mir den besten kurzfristigen und langfristigen Anreiz für ihn überlegen. Man muss aber aufpassen, dass die Anreize nichts verdrängen. Ich würde Mason nicht dafür bezahlen, Bücher zu lesen, weil er dann aus eigener Motivation heraus nichts mehr lesen würde.
Sie machen diese Experimente aber auch mit fremden Kindern, deren Präferenzen Sie nicht so gut kennen.
Genau. In den USA zählt Übergewichtigkeit zu den primären Todesursachen. Deswegen ist es politisch wichtig, zu erforschen, wie man sie bekämpfen kann. Wir wollten herausfinden, wie man Kinder dazu bringt, gesunde Snacks zu essen - in der Hoffnung, dass sie ihre Essgewohnheiten für ihr weiteres Leben ändern. Dazu haben wir Feldexperimente in verschiedenen Schulkantinen durchgeführt.
Wie lief das konkret ab?
Wir haben den Kindern erklärt, warum gesunde Ernährung wichtig ist, und ihnen Kleinigkeiten geschenkt, wenn sie zu Äpfeln griffen statt zu Keksen. Kurzfristig hat das gut funktioniert. Was die lange Frist betrifft, sind wir aber pessimistisch. Ich denke nicht, dass wir den Trend zur Übergewichtigkeit in den USA dadurch beeinflussen können.
Ist die Welt nicht viel zu chaotisch für Feldexperimente?
Es stimmt, dass die Welt kein Labor ist. Es gibt Millionen von Preisen, Märkten und Vorgängen, die wir als Marktteilnehmer nicht einmal wahrnehmen. Was Feldexperimente aber so glaubwürdig und zuverlässig macht, ist die zufällige Streuung: Wir teilen Leute per Zufallsprinzip in Behandlungs- und Kontrollgruppen ein, bevor wir das Experiment starten. Dadurch werden die Störgrößen, die das Ergebnis verfälschen würden, vernachlässigbar klein.
Gibt es auch Bereiche, in denen Feldexperimente wenig Sinn machen?
Etwa in der Makroökonomie: Feldexperimente können nicht prognostizieren, welchen Einfluss wirtschaftspolitische Maßnahmen eines Staates auf das Verhalten der betroffenen Menschen haben. Oder wie sich der Teepreis auf das Arbeitsangebot in China auswirkt. Weil wir so große Zusammenhänge nicht auf ein Feldexperiment herunterbrechen können.
Zurück zum Machbaren: In Österreich und in den USA stehen Präsidentschaftswahlen an. Wie kann man die Leute dazu bringen, wählen zu gehen, statt zuhause zu bleiben?
Dahinter steckt die Frage: Warum gehen Leute überhaupt wählen? Ein Hauptgrund in den USA ist: Sie wollen anderen erzählen, dass sie pflichtbewusst sind und von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. Natürlich könnten sie einfach lügen und so tun, als ob sie gewählt hätten. Das Problem ist aber, dass Menschen unter einem sogenannten "negativen Nutzen" leiden, wenn sie die Unwahrheit sagen.
Es entstehen uns also gedanklich Kosten, wenn wir lügen?
Wir schätzen, dass sich ein Mensch beim Aussprechen einer Lüge so fühlt, als ob er gerade vier Dollar verloren hätte. Im Kopf des potenziellen Nichtwählers geht also Folgendes vor: "Wenn mich zehn Leute fragen, ob ich wählen war, habe ich zwei Möglichkeiten: Wenn ich sie alle anlüge, kostet mich das insgesamt 40 Dollar. Wenn ich ehrlich zu ihnen bin, leide ich unter dem Imageschaden, kein guter Bürger zu sein. Der Zeitaufwand, wählen zu gehen, ist also das geringste Übel." Will man die Nichtwählerquote senken, sollte man von Tür zu Tür gehen und sagen: "Ich komme am Tag nach der Wahl vorbei, um dich zu fragen, ob du deine Stimme abgegeben hast."
Passiert das in der Praxis?
Ja - und zwar, seit wir vor der letzten Präsidentschaftswahl Obamas Team beraten haben. Heute nutzen sowohl Demokraten als auch Republikaner diese Taktik, um sicherzugehen, dass ihre jeweiligen Zielgruppen von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen.
Was erwarten Sie sich von der wirtschaftlichen Entwicklung?
Ich bin Optimist, was die Weltwirtschaft, die Eurozone und die Vereinigten Staaten betrifft. Ein großes Problem, vor dem viele moderne Volkswirtschaften jedoch stehen, ist die Überalterung. In den USA, in Europa und China kommt die Baby-Boomer-Generation in die Jahre. In der Folge konsumiert sie mehr, als sie produziert. Hier kann die Verhaltensökonomie helfen: Mittels Feldexperimenten könnten wir künftig herausfinden, welche Anreize man setzen muss, damit die Menschen länger arbeiten.
Welche Motive treiben das wirtschaftliche Handeln der Menschen überhaupt an?
Grundsätzlich möchten Menschen immer das Beste aus ihrer Situation machen. Manchmal wollen sie ihren Reichtum oder ihr Ansehen maximieren, manchmal wollen sie einfach nur helfen. Es ist aber schon so, dass sich auf den Märkten Motive wie Gier und Rachsucht manifestiert haben. Aber wenn man einmal versteht, was Menschen motiviert, kann man herausfinden, mit welchen Anreizen man ihr Verhalten umkehren kann.
Was halten Sie von der volkswirtschaftlichen Grundannahme, dass sich Menschen stets rational verhalten?
Die University of Chicago, für die ich arbeite, ist eigentlich für ihre neoklassische Ausrichtung bekannt. Dort heißt es, die Menschen seien rational und würden im Handumdrehen die richtigen Entscheidungen treffen. Ich habe dort aber noch keinen Ökonomen getroffen, der das wirklich glaubt.
Es ist also nichts dran?
Das ist ein Idealmodell, das vorhersagt, was passieren würde, wenn die Welt perfekt wäre. Aber wir wissen doch alle, dass Menschen Fehler machen. In vielen Fällen machen sie sogar sehr berechenbare Fehler. Oft, weil sie der Gegenwart zu viel Wert beimessen und der Zukunft zu wenig. Dann essen sie zu viel, brechen die Schule ab oder verschmutzen die Umwelt. Für die Gesellschaft - und insbesondere für die künftigen Generationen - wäre es aber von Nutzen, wenn die Menschen in sich selbst, ihre Kinder und ihr Umfeld investieren würden.
John List (47 Jahre) leitet das Volkswirtschaftsinstitut der University of Chicago und gilt als Anwärter für den Wirtschaftsnobelpreis. Er war auf Einladung des "Vienna Behavioral Economics Network" in Wien.