Die Kopten in Ägypten haben seit der Revolution noch mehr Angst als vorher. Deshalb rufen sie ihre Glaubensbrüder dazu auf, unbedingt wählen zu gehen.
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Koptische Christen sind über ihre Zukunft im neuen Ägypten besorgt, wie ich mich vorige Woche bei einer politischen Veranstaltung in einer ärmlichen koptischen Wohngegend in Kairo überzeugen konnte, die "Garbage City" (Miststadt) genannt wird. In einer mit Abfallhaufen gesäumten Gasse, ringsum christliche Symbole an den Wänden, war die Botschaft klar und einfach: Christen müssen, um ihre Familien zu beschützen, bei den Parlamentswahlen Ende des Monats wählen gehen. Sonst könnte Ägypten unter die Kontrolle der muslimischen Bruderschaft geraten.
"Wer nicht wählen geht, ist selbst schuld an den Konsequenzen", so ein Redner. Die Christen müssten für einen säkularen, gemäßigten und toleranten Staat kämpfen. Dina Beshay (29) aus der Nachbarschaft sagte, die Christen hätten seit der Revolution sehr viel mehr Angst. Bekäme die muslimische Bruderschaft mehr Macht, wäre das ein "großer Schock", die Christen fühlten sich an den Rand gedrängt.
Begleitet wurde ich von zwei Funktionären der säkularen Partei "Freie Ägypter", die Naguib Sawiris gegründet hat, ein prominentes Mitglied der koptischen Minderheit und einer der reichsten ägyptischen Geschäftsmänner. "Wenn Christen mir sagen, sie haben keine Zukunft in Ägypten", sagte einer der beiden, "sage ich ihnen: Geht wählen!"
Das Thema der religiösen Spannungen überschattet den Wahlkampf. Die Menschen sprechen es selten offen an, aber es herrscht Angst - auch in den meisten anderen Ländern des Arabischen Frühlings. Die Frage ist: Wenn die Demokratie die islamistischen Parteien stärkt, welche Zukunft bleibt dann den christlichen Minderheiten?
"Garbage City" ist ein unvergesslicher Ort, ein Anblick wie von einem surrealistischen Filmregisseur erdacht. Lieferwägen mit aufgetürmten Abfallladungen kommen angepoltert und werden durchkämmt nach allem, was recycelt werden kann. Feuer brennt quer durch die Mülllandschaft. Weil Abfallsammeln von Muslimen als unsauber eingestuft wird, verrichten hauptsächlich Christen seit unzähligen Generationen diese Arbeit.
Um ihre Befürchtungen einschätzen zu können, habe ich mit Christen aus vielen Stadtteilen Kairos gesprochen. Alle haben Angst, aber die meisten hoffen nach wie vor, dass ein demokratisches Ägypten weiterhin tolerant mit Minderheiten umgehen werde. Eine Frau sagte, in ihrer Kirche in Heliopolis würden jeden Sonntag mehrere koptische Familien ankündigen, das Land zu verlassen. Sie habe einen kanadischen Pass, und ihr Mann wolle weg, aber sie wolle noch den Ausgang der Wahlen abwarten. Die Priester versuchen ihre Gemeinde zu beruhigen: "Wir müssen bleiben und unseren Platz im Staat einnehmen."
Eine andere Frau, die in einem Stadtviertel mit Muslimen lebt und nicht in die Kirche geht, fürchtet die "sehr negativen Gefühle gegen Christen". Sie hat keinen zweiten Pass und hätte sich auch nicht träumen lassen, je einen zu brauchen. Ihr Mann meint, sie sollten nicht warten, bis es zu spät sei. "Aber ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben", sagt sie.
Übersetzung: Redaktion