In Russland wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt. | Die Regierungspartei "Geeintes Russland" will ihre Machtbasis ausbauen, ohne eine Steilvorlage für Proteste zu liefern.
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Moskau. Iwan muss den Gürtel enger schnallen. An der Supermarktkassa gibt er weniger aus als früher. Iwan macht auch nicht mehr Urlaub in Italien oder in der Türkei, sondern am Schwarzen Meer in Sotschi oder auf der Krim. 2015 ist die Anzahl der Russen, die im Ausland Urlaub machen, um 33 Prozent gesunken - der stärkste Rückgang in den vergangenen 15 Jahren.
Russland steckt in einer Wirtschaftskrise. Iwan ist der Protagonist in einem Video von "Radio Free Europe", das zeigt, wie sich das Leben für den Durchschnittsrussen zuletzt verändert hat. Ölpreis, Sanktionen, Strukturprobleme: Bald könnten 20 Millionen Russen an der Armutsgrenze leben, prognostiziert die Weltbank.
Die Krim-Euphorie ist verflogen, die Krise spürbar: Keine guten Voraussetzungen für die Regierungspartei "Geeintes Russland", die sich am Wochenende den Parlamentswahlen stellt. Dass Premier Dmitri Medwedew zuletzt aufgebrachte Pensionisten auf der Krim mit den Worten "Wir haben kein Geld - aber haltet durch!" beschwichtigt hat, zugleich im Netz ein Video über seine angebliche Luxus-Datscha im Internet kursiert, hat die Sache nicht besser gemacht.
Image der farblosen und korrupten Apparatschiks
Die Kreml-Partei "Geeintes Russland" hat auf die Krise mit einer Gegenstrategie reagiert: einen Wahlkampf auf Sparflamme. Es gilt als offenes Geheimnis, dass die Wahlen von Dezember auf September vorverlegt wurden, um das Interesse zu dämpfen. Die Wahl sei "top secret", witzelte sogar eine russische Zeitung. "Die langweiligsten Wahlen des Jahres", schrieb der Journalist Leonid Berschidsky. "Je mehr die Regierungspartei auf sich aufmerksam macht, desto mehr Enttäuschung ruft sie bei den Wählern hervor", sagt die Politologin Jekaterina Schulmann zur "Wiener Zeitung". "Das hat nicht nur mit der Wirtschaftskrise, sondern auch mit der schlechten Reputation der alten Duma zu tun." Die Duma-Abgeordnete gelten in den Augen der Russen als farblose und korrupte Apparatschiks - ganz im Gegensatz zu Präsident Wladimir Putin, der den Russen mit seiner Außenpolitik zu neuem Selbstbewusstsein verholfen hat. Den "Mythos vom ‚guten Zaren und schlechten Bojaren‘" hat es die russische Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa in einem Interview genannt.
Theoretisch gäbe es Grund genug, die Wahlen mit Spannung zu erwarten: Nach einer Reform des Wahlrechts sind diesmal doppelt so viele Parteien zu den Parlamentswahlen zugelassen als noch zuletzt 2011. Die Regierungspartei "Geeintes Russland" hat sich zudem erstmals internen Vorwahlen gestellt. Von einer "Erneuerung der Partei" sprach zuletzt der bekannte Fernsehmoderator Pjotr Tolstoj, der nun ebenfalls für die Partei antritt. Nach Recherchen der Online-Plattform "RBK" könnten tatsächlich bis zu zwei Drittel der bisherigen Duma-Fraktion von "Geeintes Russland" durch neue Gesichter ersetzt werden. Erstmals seit 2003 werden zudem die 450 Sitze in der Duma nicht mehr nur über Parteilisten, sondern zur Hälfte über Direktmandate besetzt.
Tuschino, ein Bezirk im Norden Moskaus. Die Autos donnern über die vierspurige Straße, während Dmitri Gudkow auf der Bühne auf und ab geht. Direkter Dialog mit den Bürgern. Der 36-Jährige gilt als einziger Oppositioneller in der Duma. Es herrscht Wahlkampfstimmung: An jeder Straßenecke werden den Passanten Flugblätter, Zeitungen und Luftballons in die Hand gedrückt. Das Direktmandat hat Oppositionellen wie Gudkow überhaupt eine Chance ermöglicht, doch noch in die Duma zu kommen. Die Kreml-kritischen Parteien "Parnas" und "Jabloko" kommen in Umfragen auf nur ein Prozent der Stimmen, weit unter der Fünf-Prozent-Hürde. Umfragen sagen neben "Geeintes Russland" nur noch einen Einzug der drei systemkonformen Oppositionsparteien voraus - der Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR), den Kommunisten und der Partei "Gerechtes Russland."
Doch Moskau allein, wo vergleichsweise viele liberale Wähler leben, macht noch keinen politischen Sommer. "Bei den Direktmandaten hat ‚Geeintes Russland‘ einen klaren Vorteil, dank ihrer Verbindungen zur politischen Klasse, zu den administrativen Eliten und den Kreml-treuen Leitern auf lokaler Ebene", schreibt das Carnegie Moscow Center in einer Analyse. In vielen Wahlkreisen, vor allem abseits der Metropolen Moskau und St. Petersburg, fehlen der Opposition schlichtweg die Ressourcen, einen aussichtsreichen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Letztlich könnte "Geeintes Russland" somit mit einem proportionalen Ergebnis von 35 Prozent, aber mit Hilfe der Direktmandate, auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Parlamentssitze kommen, so der Politologe Alexander Kynew zur APA. Jüngste Umfragen sehen die Partei "Geeintes Russland" bei 41 Prozent.
In den Reihen der Regierungspartei ist derweil "Legitimität" das Wort der Stunde. Vielen sitzt wohl noch der Schock von den letzten Parlamentswahlen 2011 in den Knochen, als hunderttausende Russen gegen Wahlfälschung und gegen die "Partei der Gauner und Diebe" auf die Straße gingen. Wohl, um ein derartiges Szenario zu verhindern, wurde zuletzt die angesehene Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa zur neuen Leiterin der Zentralen Wahlkommission ernannt. Pamfilowa hat angekündigt, rigoros gegen Wahlfälschungen vorzugehen. Am Donnerstag legte sie noch einmal nach: Sollte es am Sonntag zu groben Verstößen kommen, werde sie zurücktreten. Da die Wahl auch als Testlauf für die Präsidentschaftswahl 2018 ist, gilt es, Skandale zu vermeiden.
An den schmutzigen Wahlkampfmethoden - der sogenannten "schwarzen PR" - hat das freilich nichts geändert. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, so wie in Tuschino: Nach Angaben der Kreml-kritischen Zeitung "Nowaja Gaseta" sind dieser Tage 800.000 gefälschte Flugblätter über den Oppositionellen Gudkow verteilt worden, auf denen er angeblich die Rückgabe der Krim fordert. Zudem wurden Zeitungen mit antisemitischen Texten über den jüdischen Wahlkampfleiter von Gudkow verteilt. Doch auch der Druck auf unabhängige Institutionen ist gestiegen: Die Wahlbeobachter von "Golos" hatten zuvor schon von zahlreichen Vergehen berichtet (siehe Interview). Dieser Tage wurde das renommierte Umfrageinstitut Lewada, das zuletzt eine gesunkene Zustimmung zur Putin-Partei festgestellt hatte, vom Justizministerium als "ausländischer Agent" eingestuft.
Die eigene Machtbasis stärken, ohne eine Steilvorlage für Proteste zu liefern: Das ist der Balanceakt, den die politische Führung am Sonntag vollziehen möchte. Liberalisierung auf der einen, Repression auf der anderen Seite - ein typisches Merkmal der "Hybridität" des russischen Machtapparats, so die Politologin Schulmann. "Die Macht ist heute weniger rigoros als die Sowjetmacht. Das macht sie fähig, sich der Situation anzupassen, und sichert ihr Überleben."