Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Zwischen 1904 und 1931 ging Arthur Schnitzler mehr als 800 Mal ins Kino. Seine Kinobesuche lassen sich als Fieberkurve lesen: Während er in den ersten Jahren das Kino sporadisch frequentierte, nimmt die Besuchsfrequenz ab 1920 dramatisch zu: 1921 geht er 28 Mal ins Kino, 1923 steigt die Zahl auf 45, 1924 schon auf 80, und ähnliche Zahlen gelten für die kommenden Jahre. Nicht nur hat kein anderer Autor der Wiener Moderne so viele Kinobesuche dokumentiert, sondern wir dürfen Schnitzlers Aufzeichnungen als ein solitäres Dokument der frühen Kinoleidenschaft wahrnehmen.
Auf die Frage aber, warum der Theatermann Schnitzler in den zwanziger und dreißiger Jahren das Kino dem Theater vorzog, und warum der leidenschaftlichste Kinogänger aus dem Kreis der Wiener Moderne die Filme gleichwohl (beinahe) unkommentiert lässt, gibt es bisher keine befriedigende Antwort. Der Autor selbst gibt keine Auskunft, auch seine Figuren schweigen. So sind wir auf Indizien verwiesen und auf Spekulationen, und wir können mit Analogien operieren, weil einige seiner Zeitgenossen, von Franz Kafka bis Peter Altenberg, seine Leidenschaft in (ungleich) geringerer Dosis teilten.
Imaginäre Begegnung
Die Zeitgenossenschaft ist weitreichend: Während Kafkas Kinoleidenschaft 1913 zu versiegen scheint, in dem Jahr, in dem in Schnitzlers Tagebuch die ersten Filmtitel notiert sind, beginnen Ilse Aichingers Kinobesuche 1930/31, in jenen Monaten, in denen Schnitzler im Tagebuch die letzten Filmtitel notiert hat. Aichinger besucht dieselben Kinos wie Schnitzler, etwa den "Sascha-Palast" oder das "Scala" und sieht dort Filme, die auch Schnitzler gesehen hat. Man kann phantasieren: Der alte Dichter und das junge Mädchen sitzen in derselben Reihe, sie wechseln erstaunte Blicke und vielleicht fällt eine Frage: "Was ist es, was du im Kino suchst?"
Die Namen der Kinos sind von Anfang an in Schnitzlers Tagebuch protokolliert. Zu seinen bevorzugten Kinos gehörten das seiner Wohnung benachbarte Gersthofer-Kino, das Flieger-Freiluftkino und das große Apollo-Kino. Und es gibt noch heute ein Kino, dessen Interieur sich nicht geändert hat, seit Schnitzler dort hingegangen ist: das Admiral-Kino in der Burggasse. So wichtig Schnitzler die Orte des Kinos waren, so marginal ist doch die Bedeutung des Kinos oder von Filmen als Thema und Motiv in seinem Werk. Auch in seinen bisher veröffentlichten Briefen tauchen die Stichworte Film und Kino kaum einmal auf. Keine seiner Figuren spricht vom Film oder geht ins Kino, wir erhalten keine Feuilletonstücke über das Kino, wie Altenberg, Hofmannsthal oder Salten sie geliefert haben - das Thema bleibt bei Schnitzler für das Tagebuch reserviert, und man könnte mutmaßen, dass ihm seine Leidenschaft selbst nicht ganz geheuer war.
Seine Kommentare zu den Filmen sind spärlich, gerade auch zu den wenigen, die wir kennen. Von Caligari bis zu Dr. Mabuse, von Charles Chaplin bis zu Buster Keaton: Schweigen. Vor allem aber fehlt eine Antwort, was ihn immer wieder ins Kino bewegte, wo doch die meisten seiner Anmerkungen signalisieren, dass die Kinobesuche ihn enttäuschten und unbefriedigt ließen, manchmal sogar anwiderten: "fabelhaft dumm. Viel gelacht"; "albernes Kinostück"; "war angewidert von der Geschmacklosigkeit".
Aber die Mehrzahl der Filme bleibt im Tagebuch unkommentiert, und die Mehrzahl der wenigen Kommentare erschöpft sich in einem Wort oder in schablonisierten Wendungen. In den späteren Jahren werden immerhin fast regelmäßig die Titel der Filme notiert; noch häufiger aber erfahren wir, wo danach das Abendessen eingenommen wurde.
Die Kommentare machen dem Leser vor allem deutlich, dass Schnitzler die schlechten Filme nicht davon abhielten, an seiner Leidenschaft festzuhalten. Was macht er, wenn ihn ein Film enttäuscht? Er eilt ins Kino. Schnitzler scheint in der Regel nicht auf der Suche nach ausgewählten Filmen, sondern nach dem Kino.
Dass Schnitzlers Erzählungen Affinitäten zur Filmsprache beweisen, dass das Kino seine Erzähltechnik beeinflusst und dass der Autor in den 1920er Jahren ein reflektiertes filmtheoretisches Bewusstsein entwickelt hat, das ist Common Sense der bisherigen Interpretationen. Aber klar bleibt, dass diese gesammelten Hinweise angesichts des weiten Spektrums der Filmliste nicht ausreichen.
Geld und Unterhaltung
Es gibt eine naheliegende Antwort: Schnitzler kümmert sich um die Geschäfte. Er macht sich sachkundig, liest Filmliteratur, vergleicht Angebote und Firmen, und er vertritt mit Nachdruck und Eigensinn seine Positionen als Produzent von Stoffen. Er schaut sich Filme als "Autorenfilme" an.
Der erste Titel eines Films, der im Tagebuch verzeichnet ist, ist Max Macks "Der Andere", bald darauf steht Stellan Ryes "Der Student von Prag" auf seiner Liste. Er schaut sich Filme jener Regisseure an, die für die Verfilmung seiner eigenen Stoffe oder Film-Skripte vorgesehen sind, oder Filme von jenen Gesellschaften, mit denen er in Verhandlung steht. Er gehört zu den ersten Schriftstellern, die den Kontakt mit der Filmindustrie aufnehmen, und auch die Filmbranche wendet sich bevorzugt an den erfolgreichen Schnitzler mit dessen Vorliebe für "delikate Stoffe".
Gute Erfahrungen hat Schnitzler mit der Filmindustrie nicht gemacht, er schreibt von "Filmgaunern" und zeigt sich "angeekelt". Sein briefliches Fazit lautet: "Meine Erfahrungen mit den Filmleuten sind so übel als möglich". Sein Misstrauen gegen die Filmindustrie galt nicht nur den unseriösen Finanzpraktiken, sondern entsprang auch der Sorge, dass die Marktorientierung der Filmbranche seinen souveränen Umgang mit Stoffen der Unterhaltungsliteratur auf deren Sediment reduzierte. Cecil B. DeMilles "Anatol"-Film war ihm da schon ein warnendes Beispiel.
Aber er war sich der Tatsache bewusst, dass seine Einkünfte durch verkaufte Filmrechte alle seine anderen schriftstellerischen Erträge in den Schatten stellten: Ende 1920 notiert er: "Nachricht der amerik. Bank über die von der Firma eingezahlten 4.000 D. - nach dem jetzigen Kurs fast 2 Mill.;- also ungefähr was ich in 25 Jahren mit allen meinen Sachen zusammen in der Welt verdient! Die ganze Blödsinnigkeit unsrer künstlerischen - und finanziellen Zustände drückt sich darin aus!"
Die Vermutung ist naheliegend, dass Schnitzler im Kino Zerstreuung gesucht hat (auch wenn sich diese Antwort in der Schnitzler-Forschung geringer Beliebtheit erfreut). Er besucht Aufklärungs-, Zirkus- und Artistenfilme, Operetten- und "Kletterfilme", Slapstick und Tom-Mix-Serien, die oft ausführlicher kommentiert werden als die kanonisierten Filme, und offensichtlich ist er angezogen von verheißungsvoll-schillernden Titeln wie "Schule der Liebe", "Jungfräuliches Paradies" oder "Mädchenhändler von New York".
Das Tagebuch verrät nebenbei, dass das Kino auch zum Fluchtpunkt wird, beispielsweise nach einem Ehestreit, oder, weniger dramatisch: "Dann ins Kino, da absolut ohne Arbeitslust". Man kann sogar spekulieren, dass die Trennung von seiner Frau Olga die Kinoleidenschaft Schnitzlers erst richtig entfacht hat - und wird dafür in den Tagebüchern einige Belege finden.
Dass man Schnitzler nicht die Suche nach Zerstreuung zubilligt, hängt vielleicht auch zusammen mit jenem hochmütigen Ton Hugo von Hofmannsthals, der das Kino zum Surrogat des Lebens erklärt, und "die da unten" als seine eigentlichen Adressaten ausmacht. Schnitzler partizipiert nirgendwo an diesem "Höhen-Diskurs". Er schlüpft auch nicht in die Rolle eines Kunstrichters, der Ordnung schafft, indem er zwischen "guten" und "schlechten" Filmen unterscheidet, und er sinnt nicht nach über den Kunstanspruch des neuen Mediums.
Flüchtige Bilder
Schnitzlers Schweigen über seine Filmbesuche kann auch nicht überraschen, denn schließlich war die erste Generation der Kinogeher noch schlecht gewappnet gegen die unaufhaltsame Flut der beweglichen Bilder. Lesen wir Schnitzlers konzentrierte Anmerkungen zu seinen Lektüren und Theaterbesuchen, so wird der Kontrast zu den marginalen Kino-Anmerkungen besonders deutlich. Aber vielleicht ist es gerade die Flüchtigkeit der Bilder, die Schnitzler fasziniert hat - er verzichtet darauf, sie festzuhalten (so wie er es mit seinen Träumen tut). In seinen Traumprotokollen findet der Einzug des Kinos statt, nicht in seinem Werk.
Seine häufigste Kinobegleiterin war Clara Katharina Pollaczek. Von 816 registrierten Kinobesuchen Schnitzlers ist sie bei über 500 mit von der Partie. Damit scheint sich noch eine weitere Antwort auf die Frage zu finden, was Schnitzler ins Kino treibt.
Clara Katharina Pollaczek, geborene Loeb, hat Schnitzler bereits 1896 kennen und lieben gelernt - bekannt wurde sie der Schnitzler-Gemeinde als Autorin der Szenenreihe "Mimi", einer Art von Fortschreibung der "Anatol"-Szenen aus weiblicher Perspektive. Schnitzler und Clara Loeb verlieren sich aus den Augen, segeln in verschiedene Ehehäfen und treffen sich erst wieder im fünften Akt, mehr als 25 Jahre später. Die Geschichte dieser unglücklichen Beziehung, die dann beginnt - und die ganz im Zeichen des Kinos steht -, hat Clara Pollaczek festgehalten in einem über 700 Seiten umfassenden Manuskript, das den Titel "Arthur Schnitzler und ich" trägt.
Arthurs Kinoschlaf
In der Regel ist das Tagebuch der Kinobegleiterin im Blick auf die Filme noch weniger auskunftsfreudig als das von Schnitzler. Aber sie hält zuweilen Begleitumstände fest, die ungebetene Beobachter die Diskretion vergessen lassen. Clara Pollaczek ist es, die Schnitzler im Kino beobachtet.
Eintragung in Pollaczeks Tagebuch vom 17. November 1927: "A. ist manchmal wie ein kleines Kind; ein anderes Mal notiert sie: "A. schlief fast die ganze Zeit".
Der Grundkonflikt ihrer Beziehung lässt sich mit Hilfe ihrer Tagebücher erahnen. Clara Polla-czek, die Geliebte des Fünften Akts, beklagt sich voll Bitterkeit darüber, dass Schnitzler sich nur selten mit ihr in der Öffentlichkeit zeigt. Es ist eine banale Spekulation: Wäre er mit ihr statt ins Lichtspielhaus 500 Mal ins Theater gegangen, wäre das eine andere Liebesgeschichte gewesen.
Statt dessen verschwindet er mit ihr drei Jahre lang im Dunkel des Kinos, wo sie als Paar unsichtbar werden, und wo Claras Klagelitaneien für eine kurze Zeit verstummen. Ein typischer Tagebucheintrag vom November 1930 lautet: "Mit C. P. eine üble Discussion; (. . .) ins Kino mit ihr; (. . .)".
Michael Rohrwasser, geboren 1949, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien. Zusammen mit Stephan Kurz und Daniel Schopper hat er 2012 veröffentlicht: "A. ist manchmal wie ein kleines Kind". Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino. Böhlau Verlag, Wien 2012,