Diskussion über Vorzüge des Mehrheitswahlrechts. | Roman Herzog unentschlossen. | Wien."Braucht Österreich ein neues Wahlrecht?" Unter diesem Motto lud der Wirtschaftsbund am Donnerstagabend zu einer Diskussion über die Vor- und Nachteile eines Mehrheitswahlrechts.
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Kurz zu den Tatsachen: Der Frust über Rot-Schwarz hat - vorwiegend in bürgerlichen Kreisen - eine Debatte über die Vorzüge eines Mehrheitswahlrechts ausgelöst; die Hoffnungen richten sich auf eine erleichterte Regierungsbildung. Leitartikel in fast allen Tageszeitungen äußerten Sympathie für eine solche Wahlrechtsreform. In der Folge schloss sich eine Gruppe Gleichgesinnter zur Initiative Mehrheitswahlrecht (www.mehrheitswahl.at) zusammen. Offiziell haben die Obleute aller Parlamentsparteien diese Überlegungen abgelehnt.
Impulsredner war Roman Herzog (74), ehemals Präsident des deutschen Verfassungsgerichts und von 1994 bis 1999 Bundespräsident der Bundesrepublik. Herzog ließ die Zuhörer allerdings einigermaßen ratlos zurück, denn wer von ihm ein kantiges Plädoyer für ein Mehrheitswahlrecht erwartet hatte, wurde enttäuscht.
Stattdessen analysierte er - ausgehend von der deutschen Realität - die Defizite eines strikten Verhältniswahlrechts: Das einstige zweieinhalb-Parteien-Parlament franste zu einem fünf-Parteien-Parlament aus. Die Blöcke links und rechts der Mitte sind fast exakt gleichstark - "das politische Profil der Bevölkerung verschwimmt", und dies stärke die Macht kleiner Interessenverbände.
Diese Entwicklungen hätten in Deutschland den Ruf nach einem Mehrheitswahlrecht laut werden lassen. Auf wenig Gegenliebe stößt bei Herzog dabei das britische System, wo die relative Mehrheit in Einer-Wahlkreisen für den Gewinn des Mandats ausreicht: Einen solchen Systembruch, der die kleinen Parteien dem Untergang weiht, würde die Bevölkerung nicht akzeptieren, ist er überzeugt. Ein Mehrheitswahlrecht, bei dem die relativ stärkste Partei die absolute Mandatsmehrheit erhält, würde wiederum das Verfassungsgericht nicht tolerieren, da es gegen den Grundsatz verstoße, wonach jede Stimme die gleiche Wirkung haben muss.
Am ehesten noch kann sich Herzog für das französische Modell erwärmen: Dieses verlangt in Einer-Wahlkreisen die absolute Mehrheit, was zu Allianzen von Parteien desselben Lagers bei Stichwahlen führt. Konsequenterweise handle es sich bei Frankreich auch nicht um ein Zwei-Parteien- sondern um ein Zwei-Blöcke-System, das kleineren Parteien Nischen bietet. Und noch etwas gefällt Herzog an Frankreich: Dass nämlich das Gros der Regierungsarbeit nicht auf Parlamentsbeschlüssen beruht, sondern auf Verordnungen der Exekutive - Regieren wird dadurch erleichtert.
Und um dieses Ziel kreiste auch die Diskussion zwischen Wirtschaftsminister Martin Bartenstein, Grünen-Klubchef Alexander Van der Bellen und dem Politologen Norbert Leser. Während Bartenstein das Ziel "einfacher Regieren" nach den Erfahrungen der vergangenen 16 Monate Rot-Schwarz in den Mittelpunkt rückte, sah Van der Bellen keinen Grund, sich selbst aus diesem Grund aus dem Parlament hinauszukomplimentieren. Er meldete auch Zweifel an der These an, dass ein Mehrheitswahlrecht automatisch zu besserer Politik führe. Allenfalls für das Modell, das der relativ stärksten Partei 50 Prozent minus zwei bis drei Mandate sichert, zeigte Van der Bellen Sympathie - immerhin würde die Rolle kleiner Parteien als Mehrheitsbeschaffer massiv aufgewertet.
Leser wiederum sieht ein Mehrheitswahlrecht vor allem als Mittel zur Stärkung der Persönlichkeiten: "Bei allem Respekt vor den Säulenheiligen der Sozialpartnerschaft, aber ich glaube, dass weder Anton Benya noch Rudolf Sallinger einen Wahlkreis gewinnen hätten können -und Präsident Leitl war klug genug, erst gar kein Mandat anzunehmen", ritt Leser eine Spitze gegen die Personalauswahl der Zweiten Republik.