Das Internet hat das menschliche Sexleben verändert. Pornos sind allgegenwärtig. Das birgt Probleme, Chancen und neue Geschäftsmodelle.
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Das Leben wird schneller. Planbarer. Überschaubarer und kontrollierbarer. Somit ist auch erklärbar, warum die Zeitspanne bis zum Orgasmus nur mehr gut 45 Sekunden beträgt. So lange dauert ein durchschnittlicher Clip auf den einschlägigen Pornovideoplattformen im Internet. Sex für zwischendurch. Ein Höhepunkt hier, ein schneller Quickie dort. Kein Vorspiel, keine Verpflichtungen. Die Konsumenten entscheiden zunächst, welche Kategorie – und derer gibt es unermesslich viele – sie interessiert und schon geht es los. Sex ist allgegenwärtig im Internet. Das Wissensnetzwerk wurde zur Pornoplattform. Die Sexindustrie setzt täglich weltweit Milliarden Euro um und hat sich zum lukrativsten Geschäft im Datennetzwerk entwickelt.
Doch nicht nur vorgefertigte kostenlose Fließband-Pornografie, die die vorwiegend männlichen Konsumenten zum Abschluss kostenpflichtiger Abonnements bewegen soll, findet sich im Internet. Seit den
1990er Jahren beschreibt der Begriff Cybersex verschiedene Formen der virtuellen Erotik, sexueller Interaktion und Pornografie, die mit Hilfe eines Computers oder über das Internet ausgelebt werden. Das breite Spektrum reicht von der reinen Betrachtung und/oder Masturbation beim Konsumieren pornographischer Bilder oder Videos in sexuell anzüglichen Chats über den Austausch erotischer E-Mails – nicht nur innerhalb kostenpflichtiger Angebote, sondern auch bei Fernbeziehungen – bis hin zur sexuellen Stimulation mit Hilfe von Datenhelmen oder -handschuhen.
Doch gibt es Cybersex überhaupt? Oder ist das Internet in Wahrheit völlig asexuell? Der große Unterschied und damit auch die Erklärung, warum Cybersex immer größeren Zustrom erfährt, liegt nicht nur im unermesslichen Angebot und der ständigen Verfügbarkeit, sondern auch in der Tatsache, dass Cybersex Interaktion zwischen den Beteiligten ermöglicht. Ein Computer oder Smartphone mit Kamera und Internetzugang und schon kann nicht nur konsumiert, sondern auch angeboten werden. Der einfache Zugang ermöglichte eine unglaubliche Steigerung der Angebote. Das Internet ist dabei jedoch nur Mittel zum Zweck, der Videorekorder der modernen Zeit, und somit sehr wohl asexuell. Im Gegensatz dazu ist Cybersex nicht mehr und nicht weniger sexuell als Sado-Maso-Sex oder andere Fetische. Die Möglichkeiten sind dabei nahezu unbegrenzt.
Die Pornoindustrie hat das Internet mit aufgebaut, Bezahlmodelle entwickelt und Sicherheitssysteme wie auch Kopierschutzmechanismen vorangetrieben. Kaum eine Branche hat den virtuellen Raum derart mitgeprägt. Somit ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Erkenntnisse aus dem Cyber-Sex-Bereich nun auch in den altbewährten Videomarkt Einzug halten. Pornofilme mit immer mehr, dafür immer kürzeren Höhepunkten. Schnelle Schnitte und wenig Tiefe, sofern Pornofilme dies in der Vergangenheit jemals hatten. Was die Pornoplattformen im Internet bieten, kommt nun auch in den Bluray-Player. Die Sexbranche zeigt sich auch besonders interessiert an neuen Technologien und Innovationen. So sollen Kamerabrillen den Konsumenten in Zukunft Bilder liefern, als wären sie selbst die Protagonisten des Pornofilms. Dies bedeutet die logische Weiterentwicklung der derzeitigen Webcam-Angebote. Hierbei bestimmen die User mittels Chat, SMS oder Mikrofon, was die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter vor ihrer Webcam tun sollen. Der Konsument wird zum eigenen Regisseur. Interaktion statt reiner Berieselung.
Und so entwickeln sich auch die Konsumenten weiter. Die Übersättigung an kostenlosen Angeboten in immer gleicher Präsentation und mit den gleichen Gesichtern hat nun auch neue Anbieter und interessante Angebote im Netz auftauchen lassen. Am meisten diskutiert wurde etwa die Webseite "MakeLoveNotPorn" von Cindy Gallop. Laut Eigenwerbung will sich das Angebot der Webseite dem allumfassenden Angebot an gewaltverherrlichenden Hardcore-Pornos, die Sexualität fernab jeglicher Realität darstellen, entgegenstellen. Echte Menschen bei echtem Sex – nicht des Geschäftes wegen, sondern der Liebe, so die Mission. Mehr Realismus und echten, gelebten Sex will die Webseite der Internetgemeinschaft bieten. Ganz normale Paare können ihre Sexvideos hochladen und erhalten dafür Geld. Noch befinden sich die Seite und das Angebot im Aufbau, aber Gallop zeigt sich positiv und sieht ihr Konzept auf der Erfolgsspur.
Doch wo Licht, da auch Schatten. Die Mehrheit der Pornoseiten im Internet bedient weiterhin die "klassischen" Männerfantasien und ist damit auch fern der realen Lebenssituationen. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Pornos lockt auch wissbegierige Minderjährige an. Seit geraumer Zeit häufen sich Meldungen aus Schulen, die von Gewaltpornos auf Smartphones von 13-Jährigen berichten. Einige Experten sind der Meinung, dass diese Entwicklungen negative Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung und die Vorstellung von Sexualität in der Realität bei den Jugendlichen auslösen könnten. Doch nicht nur die eigene Sexualität, auch das Thema Kinderpornographie ist im Internet alltäglich geworden. Die Gefahren von Missbrauch und Ausbeutung sind im virtuellen Raum nicht weniger weit verbreitet als in der Realität. So wurde vor wenigen Wochen eine Gruppe von Cyber-Zwangsprostituierten befreit. Die Frauen wurden gezwungen, vor Webcams die Wünsche der Freier auf der ganzen Welt zu erfüllen. Die Lösung dieser Probleme muss in der Realität gefunden werden, so viel steht fest. Was hier verboten ist, ist auch im Netz nicht erlaubt.
Sex unter Freunden
Spannend ist es allerdings, wenn man diese Frage im "Second Life" stellt. Das ehemals florierende Paradies der virtuellen Realität war einst der Mittelpunkt des Cyberspace. Wer hier nicht war, der war nicht dabei. Innerhalb kürzester Zeit schwand jedoch das Interesse der Community an der virtuellen Welt und so wurden Teile des "Second Life" zum unendlich großen Swingerklub. In diesen Welten, in die nur Erwachsene Einlass finden, gibt es ausschweifende Orgien, hemmungslosen Sex zwischen den künstlichen Personen, den sogenannten "Avataren", und eine Vielzahl von Möglichkeiten, seiner sexuellen Fantasie freien Lauf zu lassen. Fest steht dabei allerdings auch, dass man nicht sicher sein kann, wer sich in Wirklichkeit hinter dem Avatar verbirgt. Aber immerhin muss man keine Angst haben, dass sich der Laptop beim Cybersex einen Virus holt.
Und genau diese Problematik will eine neue Facebook-Applikation mit dem vielsagenden Namen "Bang with Friends" ("Vögle mit Freunden") aus der Welt schaffen. Sex unter Facebook-Freunden, so das Ziel der App, die sich in US-amerikanischer Manier zunächst nur als Anwendung zur Bewertung des Aussehens seiner Freunde ausgibt, aber nicht mehr und weniger möchte, als das Anbahnen eines schnellen sexuellen Abenteuers zu ermöglichen. Allerdings nicht nur virtuell, sondern durchaus auch im realen Leben.
Eine Facette des Cybersex, möglicherweise aber dessen bedeutendste, wird selten thematisiert. Der Sex über Computer, Mikrofon und Webcam bedeutet für Menschen mit Handicap eine wesentliche, wenn nicht sogar die einzige Möglichkeit, Sex zu haben oder ihre Fantasien auszuleben. Sei es nun die Möglichkeit, seinen Avatar ohne Handicap in einer virtuellen Welt ohne Makel und Vorurteile aktiv oder passiv am sexuellen Leben teilhaben zu lassen, oder aber die Angebote diverser Chat- oder Videoportale in Anspruch zu nehmen. Auch wenn eine Gesellschaft offen scheint, bieten sich im Internet noch immer wesentlich mehr Möglichkeiten und Freiheiten, gerade wenn die eigenen Handlungsräume beschränkt sind.
Die Nähe fehlt
Das größte Manko des Cybersex liegt im Fehlen von körperlicher Nähe. Es bleibt eine sterile Form der sexuellen Stimulation. Über eine Webcam können Fantasien ausgelebt und angesehen werden, was fehlt, ist, den Partner zu spüren. Doch auch hier scheint ein Ende in Sicht. Vor wenigen Wochen stellte der Anbieter eines Strip-Portals eine neue Funktion für seine Anwender vor. Das LiveChat-Feature "Muschi-Control", über welches die Webcam-Girls mittels Mausklick-Steuerung über den LiveChat die Intensität und Geschwindigkeit einer künstlichen Vagina steuern können.
Die männlichen Kunden würden lediglich ein Starter-Kit sowie einen Computer und eine Verbindung ins Internet benötigen. Bei der Hardware handelt es sich um "eine vibrierende und modifizierte Variante der bis heute bereits millionenfach verkauften und anatomisch detailgetreuen Vagina-Nachbildung ‚Fleshlight‘, die per USB-Kabel an jeden Computer angeschlossen und mittels einer speziellen Chat-Software über das Internet ferngesteuert werden kann", so der Betreiber. Bereits vor mehr als drei Jahren hatte die Firma Pioniergeist bewiesen und als erster kommerzieller Anbieter erotischer Online-Dienstleistungen unter der Bezeichnung "Dildo-Control" ein Chatfeature angeboten, mit dem Internet-
nutzer seither einen vibrierenden und leuchtenden Massagestab steuern können, um ihren Chatpartnerinnen über jede räumliche Distanz hinweg Lust zu verschaffen.
Die Distanz beenden, die Menschen zusammenbringen, so lautet das Credo der Branche. Nicht als Partnerbörse für die Vermittlung von Menschen, sondern schlicht für Sex – das älteste Gewerbe der Welt erlebt im Internet derzeit eine Hochblüte. Wie so oft, so bedeutet es auch diesmal für die Gesellschaft, eine adäquate Form im Umgang mit der natürlichsten Sache der Welt zu finden. Vor allem Kinder und Jugendliche müssen in Anbetracht der neuen Möglichkeiten neue Formen der Aufklärung und eines kritischen Medienkonsums erlernen. Und noch braucht es zum Sex Menschen. Bis Roboter als Partner in Frage kommen, wird wohl noch einige Zeit vergehen, falls diese überhaupt jemals kommt.