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Wahre Liebe war es nie

Von Siobhán Geets

Politik

Der Brexit ist vollzogen. Die Verbindung zwischen Großbritannien und der EU war noch nie von besonderer Zuneigung geprägt. So konnten auch zahlreiche Sonderregelungen die Briten nicht halten. Eine lange Geschichte der Entfremdung.


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Es sollte eine feierliche Zeremonie werden, ein Samstagnachmittag in demonstrativer Einigkeit. Doch als der britische Premier Edward Heath am 22. Jänner 1972 zur Unterzeichnung des Beitrittsvertrags nach Brüssel reist, kommt es zum Eklat. Noch bevor er den Egmont-Palais betreten kann, stürmt eine Frau auf ihn zu und bewirft den Premier mit Tinte. "Der Plastikbeutel traf den Premier mitten im Gesicht und die Tinte ergoss sich über seinen Anzug", ist am nächsten Tag auf der Titelseite der "Wiener Zeitung" zu lesen. Heath muss sich waschen und umziehen, die Zeremonie um eine Stunde verschoben werden.

Genau 47 Jahre war das Königreich Mitglied der europäischen Gemeinschaft, in der Nacht auf Samstag wird der Brexit vollzogen. Es ist das Ende einer langen Geschichte der Entfremdung, einer lieblosen Zweckehe, in der viel gelogen und betrogen wurde.

Die Entfremdung beginnt bereits vor dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1973. Zwei Mal, 1961 und 1967, bewirbt sich Großbritannien für eine Mitgliedschaft, beide Male legt Frankreich ein Veto ein. Präsident Charles de Gaulle fürchtet, die Briten könnten Frankreich vom Sessel der Macht drängen und den USA zu mehr Einfluss in Europa verhelfen.

Als de Gaulle 1969 zurücktritt, nimmt die EWG die Verhandlungen mit Großbritannien wieder auf. Am 1. Jänner 1973 wird Großbritannien zum Mitglied.

Doch schon der Anfang ist schwierig. Das erste Referendum über einen Austritt findet bereits zwei Jahre nach dem Beitritt statt. Zwar stimmen die Briten 1975 klar für den Verbleib. Doch ist es keine gute Zeit für das Königreich. In den 1970ern steckt die Wirtschaft in der Krise, die Rohölpreise steigen, das Wachstum sinkt. Die Sparpolitik der Konservativen treibt die Arbeiterklasse weiter in die Armut, doch viele Briten machen schon damals Brüssel dafür verantwortlich.

Einfach dagegen

In den 1980er Jahren legt die damalige Tory-Premierministerin Margaret Thatcher den Grundstein für jene antieuropäische Geisteshaltung, die sich bis heute hält. Anfangs gibt sich die Konservative vorsichtig proeuropäisch - beim weltgrößten Binnenmarkt soll ihr Land selbstverständlich mit dabei sein. Doch die von der EWG angestrebte politische Integration sei "ein Albtraum", "absurd" die Idee, nationale Kompetenzen an Brüssel abzugeben. "I want my money back", ruft Thatcher 1979 Richtung Brüssel - und handelt zahlreiche Sonderregelungen für ihr Land aus.

Die "Eiserne Lady" muss 1990 zurücktreten, aber an der britischen EU-Politik ändert das nicht viel. Im besten Fall interessiert die Briten nicht, was jenseits des Ärmelkanals geschieht. Häufiger aber verteufeln sie die Bürokraten in Brüssel und stellen das Königreich als Kolonie dar. Immer wieder scheitern wichtige Integrationsschritte an London. Eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ein EU-Außenminister, ein zentrales militärisches Hauptquartier - das ist mit den Briten nicht zu machen. Kein Land hat so oft gegen Initiativen und Gesetzesvorschläge der EU gestimmt wie Großbritannien.

Auch für die Brexiteers der Gegenwart sind die "Einmischungen aus Brüssel" Teufelswerk. Soziale Mindeststandards, der Europäische Gerichtshof, all das widerspricht ihren Vorstellungen vom "schlanken Staat". Konservativen Brexiteers war die EU nie neoliberal genug. Unterstützt werden sie von rechten Medien und deren ausgesprochen aggressiven Anti-EU-Kampagnen. Maßgeblich dazu beigetragen hat der heutige Premier Boris Johnson. Als Brüssel-Korrespondent des "Daily Telegraph" erfindet er ab Ende der 1980er Geschichten, um die EU wie einen Haufen regulierungswütiger Irrer dastehen zu lassen.

Ihren Höhepunkt finden antieuropäische Ressentiments in der gezielten Desinformation des Leave-Lagers vor dem Referendum. Die Sehnsucht nach dem Glanz der alten Zeiten wird zum wütenden Gebrüll gegen Brüssel. Aus dem Mitgliedsland Großbritannien wird eine Kolonie, aus der EU - allen voran Deutschland - skrupellose Unterdrücker, deren Fesseln es zu sprengen gilt.

Bananen, Hitler und die EU

Dabei hatte der damalige Premier David Cameron vor dem Referendum von 2016 weitere Sonderregelungen für sein Land ausverhandelt, darunter eine Beschneidung von Sozialleistungen für Geringverdiener aus anderen EU-Staaten. Zudem wurde festgelegt, dass das Königreich bei weiteren Schritten zur Integration nicht mitmachen muss. Doch es half alles nichts: Am 23. Juni 2016 stimmen knapp 52 Prozent der Wähler für den Austritt.

Für Cameron bedeutet das das Ende seiner politischen Karriere. Die kommenden Jahre versteckt er sich in seinem Gartenhäuschen, um ein Buch zu schreiben, Journalisten läuft er buchstäblich davon. "For the Record" ist eine 750 Seiten starke Abrechnung mit konservativen Brexiteers, allen voran Johnson. Cameron weist jede Schuld an den Folgen des Referendums von sich. Das einzige, was ihm vorzuwerfen wäre, so der Ex-Premier sinngemäß, sei die Tatsache, dass er zu staatsmännisch agiert habe, während das Leave-Lager ungeniert Lügen verbreitete.

Tatsächlich basieren die meisten Versprechen der Brexiteers auf Lügen oder Halbwahrheiten. Eine davon ließ Johnson sogar auf einen Bus drucken. "Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund", stand darauf, "Lasst uns stattdessen unser Gesundheitswesen finanzieren." Im Kampf gegen Europa tourte Johnson durchs Land, verglich die EU mit Hitler oder behauptete, Brüssel wolle den Kauf von Bananen im Bund verbieten. Es waren recycelte Versionen seiner Lügen aus den Brüssel-Jahren - und sie zogen noch immer.

Dem hatten die halbherzig agierenden Proeuropäer nichts entgegenzusetzen.

Die Briten mögen lange darum gekämpft haben, der europäischen Gemeinschaft beitreten zu dürfen. Doch sobald das geschah, ging der Streit richtig los. Dementsprechend fielen die Feierlichkeiten am 3. Jänner 1973 aus. Heath hatte einen zwölftägigen Festreigen mit Konzerten und einem Fußballspiel geplant. Doch als Königin Elizabeth in Covent Garden vorfuhr, traf sie auf eine wütende Meute. Eine Stinkbombe verfehlte die Queen knapp. Der Werfer wurde verhaftet, die schlechte Stimmung blieb. Großbritannien, so scheint es, wollte nie wirklich dabei sein.

"Großbritannien hat ein Empire verloren und noch keinen neuen Platz gefunden", sagte der ehemalige US-Außenminister Dean Acheson schon 1962. Das gilt bis heute. Die Frage ist, ob die Briten ihre Rolle mit dem Brexit wiederfinden.