Ludwig Wittgenstein hat mit seiner Philosophie auch das Sagbare vom Unsagbaren abgegrenzt. - Ein Versuch, was damit gemeint sein könnte.
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"Worte ins Schweigen" heißt eine Sammlung persönlicher Gebete des großen Theologen Karl Rahner SJ (1904-1984). Er war davon überzeugt, dass der Gläubige der Zukunft Mystiker sei. Und zwar in dem Sinn, dass ihm gerade die dunkle Erfahrung des Nichterfahrens Gottes vertraut ist - er aber trotzdem an einem Adressanten des menschlichen Sehnens festhält.
Aber nicht nur Gott ist im Schweigen. Zu den grundlegenden menschlichen Erfahrungen gehört auch: im Zusammensein mit einem anderen Menschen die Tiefe des Daseins (oder während kontemplativer Übungen die Fülle des Selbst) gerade im Schweigen zu erleben. Schweigen ist hierbei eine aktive Tätigkeit, die als bevorzugten Gegenstand das hat, worüber man nicht sprechen kann. Dieses Unsagbare war für den Philosophen Ludwig Wittgenstein eine existenzielle Realität. Wie sonst könnte Wittgenstein das Unsagbare als Schluss schlechthin gerade am Ende seiner "Logisch-philosophischen Abhandlung", später "Tractatus logico-philosophicus" genannt, bezeugen? "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" - so lautet der berühmt gewordene Satz.
Weises Unwissen
Was aber ist das Unsagbare? Mithilfe der Sprache bilden wir Beziehungen ab. Doch "ist alle Beziehung eine teilweise und damit auch alles Wirken und Erfassen ein teilweises", wie der Wittgenstein-Interpret Hans Kestranek (1873-1949) in seiner erkenntnistheoretischen Dichtung "Präludien" schreibt. Folglich abstrahieren wir im Sprechen unvermeidbar vom Ganzen, das sich somit der Sprache prinzipiell entzieht.
Selbst im Fall von Eigennamen ist die Kluft zwischen Wort und Sache unüberbrückbar. Das Unsagbare ist daher die Wirklichkeit in seiner Ganzheit - die Welt mit allen ihren immanenten und transzendenten Inhalten. Kestranek entdeckt in der Unverfügbarkeit dessen, was einfachhin ist, eine ethische Funktion: "Vor Wissen, das nicht frommt, schützt uns ein weises Unwissen." Dieses Unwissen bedeutet aber freilich nicht, dass der Mensch in Bezug auf das Ganze ahnungslos sei. Er kann es bloß nicht sprachlich fassen.
Was folgt daraus für die wissenschaftliche Erkenntnis? Die Einzelwissenschaften können und müssen sich nicht um das Ganze bemühen. Sie analysieren die Beziehungen in der Welt anhand eines ihren Methoden entsprechenden Bildes oder Modells. Was sie dabei zu fassen bekommen, ist jener Teil des Ganzen, den wir mit dem Begriff des "Immanenten" ansprechen. Aber auch die Philosophie, soweit sie Wissenschaft sein will, ist nach Wittgenstein nicht in der Lage, die Welt und ihre ganze Wahrheit zu ihrem Gegenstand zu machen: "Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind."
Hat Wittgenstein recht damit? Ja: Denn erstens kann das Leben wissenschaftstheoretisch als Totalexperiment aufgefasst werden. Individuelles Leben ist aber nicht wiederholbar. Somit versagt die Auseinandersetzung mit Lebensproblemen in Bezug auf das Kriterium für Wissenschaftlichkeit, die Wiederholbarkeit - wenn schon nicht prinzipiell, so zumindest praktisch.
Zweitens korrespondieren Fragen in Bezug auf das Leben in seiner Ganzheit mit der ethischen Frage nach dem richtigen Leben. Wir antworten auf diese mit dem Hinweis auf Werte - die wissenschaftlich nicht begründet und somit bloß als Axiome gesetzt werden können. Wittgenstein schließt daher sprachlich vermittelte Antworten auf ethische Fragen aus dem Bereich des Sagbaren aus; sie könnten nur vorgelebt werden.
Das Ganze der Welt
Und drittens gehört zum Leben die Erfahrung von Transzendenz, das heißt das Erleben von etwas, das per se jenseits des sprachlich Fassbaren liegt: zum Beispiel die Dichtheit eines Moments (etwa im Rascheln eines Blatts Papier); die Tiefe freien Lachens; die beglückende Freude angesichts der Gegenwart des Freundes; das Leuchten einfacher Formen (sei es in der Literatur oder Architektur) - kurzum alles, was Wahrheit, das Gute oder Schönheit ausstrahlt oder sie erahnen lässt, wie auch die geheimnisvollen Fragen: "Warum bin ich gerade diese Person, und warum liebe ich diesen einen Menschen besonders, und worauf richtet sich meine grundsätzliche Dankbarkeit? Und was ist das Böse, das ich auch in mir finde?"
Das Ganze des Lebens und weitergefasst das Ganze der Welt entziehen sich also dem wissenschaftlichen Zugriff - wie überhaupt jeder Verzweckung. So kann es auch nur in jenen Vollzügen dargestellt werden, denen es prinzipiell nicht um Zwecke geht. Das sind die Künste - und doch auch Philosophie und Theologie, sofern sie sich nicht selbst als ausschließlich wissenschaftliches Tätigsein verstehen.
Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ethische Diskurse den Verweis auf existenzielle Erfahrungen zulassen. Eine solche Erfahrung oder Ahnung klingt etwa bei Karl Rahner an, wenn er die "Kleinigkeiten und demütigen Unscheinbarkeiten des Alltags" wertschätzt: "Sie machen uns nüchtern, vielleicht müde und enttäuscht, bescheiden und still. Aber das ist es ja gerade, was wir werden sollen, was zu lernen schwer ist und doch gelernt werden muss." Spürt die Leserin hier nicht, dass Wahrheit darin liegt, jenseits deduktiver Begründbarkeit?
Theologie überschreitet hier die Wissenschaft hin zur Weisheit. Und ihre objektive Sprache geht über in religiöse Sprache, die auf innere Resonanz angewiesen ist.
Unverfügbarkeit
Der Leser kann in Bezug darauf nur Resonanzraum sein als konkreter Mensch mit seinen je eigenen Erfahrungen und seines Lebens verborgenem Fluchtpunkt. Die in innerem Gleichklang wahrgenommene Wahrheit ist transzendente Realität. Sie liegt jenseits der Wissenschaften und ihrer nach Eindeutigkeit strebenden Sprache - denn "religiöse Sprache lebt [im Schillern], etwas zu sagen und es nicht zu sagen, etwas zu zeigen und in demselben Atemzug zu verbergen" (Christian Lehnert).
Theologie kann schon alleine von ihrem Gegenstand her gar nicht anders, als die wissenschaftliche Sprache zu überschreiten, indem sie zur religiös-poetischen Sprache wird. Denn ihr Gegenstand - Gott als der unendlich Nahe und unendlich Ferne zugleich - ist kein Gegenstand. Daran erinnert auch Dietrich Bonhoeffers Wort: "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht." Dementsprechend muss sich die wissenschaftliche Seite der Theologie mit den Erkenntnisweisen und -quellen ihrer existenziellen, die transzendente Realität einschließenden Seite auseinandersetzen - zum Beispiel mit der Intuition und dem Gewissen.
Letztlich ist Gott unverfügbar, so wie auch das Innerste des Menschen, seine Würde, unverfügbar und insofern unantastbar ist. Gott und die menschliche Würde entziehen sich denn auch der Sprache: Beide Begriffe sind Platzhalter für eine Realität, die umschrieben werden muss.
Unverfügbarkeit bedeutet zuvorderst, dass etwas nicht vor den Karren der zweckrationalen Vernunft gespannt werden kann, ohne dass es dabei zerstört würde. Die polemische Rede von den "brotlosen Künsten" entpuppt sich so als ungewollte Hochachtung: Frei von Zwecken sind sie Medium für alles, was zur transzendenten Realität gehört. Kunst kann daher vermitteln, woran die Wissenschaften scheitern, weil ihr die Worte fehlen. Als eindrucksvolles Beispiel darf vielleicht Friedrich Nietzsche dienen, dem allein die Musik Lebenssinn gab: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum." Die durch die Künste vermittelte Einsicht, dass Wahrheit zwar jenseits der Sprache, aber trotzdem in der Welt liegt, heißt Glaube.
Menschen, die in diesem Sinn an Gott glauben, müssen freilich mit Wittgenstein dessen intellektuelle Schwierigkeit teilen, "die Grundlosigkeit [des] Glaubens einzusehen". Vielleicht wird der Gläubige von morgen auch deshalb Mystiker sein.
Markus Seidl-Nigsch ist promovierter Chemiker, lebt und arbeitet als
freier Autor und Privatlehrer im Bregenzerwald und befasst sich seit
vielen Jahren mit Philosophie und Theologie.