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Man stelle sich vor, eine üble Kraft veränderte die Bahngeschwindigkeit unserer Erde. Sie verließe dann ihren lichtverwöhnten Orbit und driftete in immer größere Sonnendistanz. Sie kreuzte die Bahn des kleinen Mars, dann die des Riesenplaneten Jupiter mit seinen 318 Erdmassen. Sie passierte den Orbit des mächtigen Ringplaneten Saturn, durchquerte das Reich des Uranus und des Neptun, in das nur noch Promille der einst so vertrauten Sonnenwärme vordringen.
Auf ihrer Reise ins Nichts geriete die Erde zum riesigen Schneeball. Gletscher schöben sich bis zum Äquator vor. Irgendwann legte sich die Lufthülle wie Raureif über ihr Antlitz. Die früher so liebenswerte Erde zöge schließlich ohne Beleuchtung durch den interstellaren Raum, dem "Abgrund" zwischen den Sternen. Sie wäre zum einsamen Planeten verkommen. Die Sonne ist bloß noch ein Lichtpunkt, so schwach wie die anderen Sternchen; schließlich verlöre man sie endgültig aus den Augen. Doch auf Erden existierte ja nichts mehr, das Augen besäße. Nur blinde Geschöpfe hielten sich rund um heiße Quellen am Boden der Tiefsee auf; dort, wo es immer schon dunkel war - und wo das irdische Leben vielleicht einst begonnen hat.
Jupiter beraubt Mars
Keine Angst - uns droht kein solches Schicksal. Allerdings besaß die Erde womöglich "Schwesterwelten", denen Derartiges widerfahren ist: und zwar vor gut 4,5 Milliarden Jahren, als sich die Planeten formten und noch nicht ihre fixen Plätze eingenommen hatten. Damals pflügte sich der rasch wachsende Riese Jupiter durch jene Scheibe aus Gas und Staub, die das Baumaterial der Planeten bildete. Er spiralte in immer intimere Sonnennähe, und raubte dort unserem Nachbarn Mars vermutlich den Großteil seines Baustoffs. Von Saturn manipuliert, kehrte er bald wieder in größere Sonnenferne zurück.
Auch Saturn, Uranus und Neptun wanderten, wobei die beiden letzteren dabei womöglich sogar die Plätze tauschten. Was diesen Großplaneten zu nahe kam, das katapultierten sie jedenfalls fort: Kleinere Körper stürzten in die Sonne, wurden an den Rand des Planetensystems gedrängt oder gleich ins Niemandsland zwischen den Sternen verbannt. Vielleicht ging damals mehr Material verloren, als für die Planetenbildung übrig blieb.
Rund um andere, ferne Sonnen haben Astronomen einige Indizien für noch viel dramatischere Planetenwanderungen entdeckt. Dort hetzen Gasriesen mitunter auf extrem engen Bahnen um ihre Sterne: In derart heißen Regionen können sie kaum entstanden sein. Manche Planeten ziehen außerdem - wie kosmische Geisterfahrer! - in falscher Umlaufrichtung um ihre Sonne. Ihre Bahnebene muss sich im Lauf von hundert Millionen Jahren immer mehr geneigt haben, bis sie scheinbar "umkippte". Ursache mag die Begegnung mit einem anderen Großplaneten gewesen sein oder die Störung durch eine zweite Sonne: Planeten sind ja auch in Doppelsternsystemen zu Hause. Bei solchen Prozessen laufen kleinere Himmelskörper ebenfalls Gefahr, den größeren in die Quere zu kommen - und dabei ins Exil geschickt zu werden.
Himmelsmechanisch ist es also plausibel: Planeten können ihr Elternhaus verlieren und fortan als kosmische Waisenkinder durch den kalten, finsteren Raum driften; je geringer ihre Masse, desto größer ist dieses Risiko.
Wie Albert Einstein 1915 in seiner allgemeinen Relativitätstheorie postulierte, krümmen Massen den Raum - und somit auch Lichtstrahlen, die knapp an ihnen vorbei streifen. Nachgewiesen wurde dieser Effekt bereits vier Jahre später bei einer Sonnenfinsternis. Eine Folge davon ist Microlensing, im Deutschen sperrig "Mikrogravitationslinseneffekt" genannt. Dank der massebedingten Raumkrümmung fallen hier auch Lichtstrahlen ins Teleskop, die sonst an der Erde vorbeigeschrammt wären. Das Licht eines fernen Sterns erfährt eine - etwa eineinhalb Monate lang währende - Verstärkung, sobald sich ein anderer Stern fast exakt zwischen ihm und uns vorbeischiebt.
Besitzt der Vordergrundstern einen Planeten, wirkt dieser als zweite, schwächere Gravitationslinse. Dann kommt es zu einer weiteren, bescheideneren und kürzeren Verstärkung; rund eineinhalb Tage lang.
Microlensing ist nicht die bevorzugte Methode, um Welten im Orbit um fremde Sterne - sogenannte "Exoplaneten" - aufzustöbern. Denn ein bestimmtes Ereignis dieser Art ist weder vorhersagbar, noch wiederholt es sich. Um dem Zufall bessere Chancen zu geben, peilten zwei Astronomenteams mit ihren Teleskopen in Neuseeland und Chile gleichzeitig dieselbe besonders sternreiche Himmelsregion an. Dabei konnten sie die Helligkeit von 50 Millionen Sonnen überwachen - und das im Stundenabstand. Innerhalb von zwei Jahren wurden 474 sichere Microlensing-Ereignisse erfasst, wobei fast immer eine massereiche Sonne die Gravitationslinse spielte.
Doch einige Vorkommnisse dauerten weniger als zwei Tage: kurz genug, um kleinere Objekte von etwa der Masse des Jupiters dafür verantwortlich zu machen. Im Mai 2011 verlautbarten die beiden Teams, solcherart zehn frei durchs All treibende, heimatlose Exoplaneten aufgestöbert zu haben - viele tausend Lichtjahre von der Erde entfernt.
Gestörte Nomenklatur
Vor 16 Jahren war die Begriffswelt der Astronomen noch in Ordnung. Es gab Sterne - und es gab Planeten. "Sterne" nannte man Gaskugeln mit mindestens sieben Prozent der Sonnenmasse - das entspricht etwa 75 Jupitermassen. Ab da kann ein Gestirn Wasserstoff in Helium fusionieren und so Energie erzeugen. Doch 1995 entdeckte man den ersten "gescheiterten Stern" mit weniger als 50 Sonnenmassen. Solche "Braunen Zwerge" sind des Wasserstoffbrennens unfähig. Nur in ihren Babytagen nutzen sie Deuterium zur Energiegewinnung. Dieser äußerst knapp bemessene Brennstoff versiegt jedoch schon nach wenigen Millionen Jahren.
1995 galt Jupiter noch als der massereichste aller bekannten Planeten. Ab dem Folgejahr gingen aber Exoplaneten ins Netz, die selbst ihn noch um ein Vielfaches übertrumpften. Während die einen Astronomen also immer schmächtigere Sterne fanden, stießen die anderen auf zunehmend mächtigere Planeten. Um das Entstehen einer Überlappungszone zu vermeiden, zogen etliche Forscher eine Grenze von 13 Jupitermassen zwischen Riesenplaneten und Ministernen ein; darunter klappt nämlich auch die flüchtige Deuteriumfusion nicht mehr. Es ist allerdings fraglich, ob die Natur hier überhaupt eine klare Trennung vorgesehen hat.
Es scheint Zwitterwesen zu geben - mit der Masse von Superplaneten und der Entstehungsgeschichte missratener Sterne. Vielleicht sollte man sie "stellare Fehlgeburten" nennen.
"Planeten" sind unserer traditionellen Vorstellungswelt nach keine einsamen Wölfe, sondern Welten, die treu um ihre jeweiligen Sonnen kreisen. Doch auch dieses Bild hat Risse bekommen. Schon vor Jahren stieß man auf zwei Dutzend völlig frei durch den Orionnebel driftende Himmelskörper; sie lösten eine geradezu babylonische Sprachverwirrung aus. Zu hören waren Begriffe und Kunstwörter wie "gescheiterte Braune Zwerge", "Braune Unterzwerge", "frei treibende Objekte", "Planetars" oder "Planemos". Die jüngst per Microlensing entdeckten, zehn einsamen Welten sind hingegen um ein Vielfaches "leichter": Sie bringen es jeweils auf grob ein Tausendstel der Sonnenmasse, so wie unser Jupiter. Entsprechend machte jetzt rasch das Schlagwort von "ausgerissenen Planeten" die Runde.
Wie sehen solche Waisenkinder aus? Die jüngst nachgewiesenen Welten werden wohl auch im Aufbau dem Gasriesen Jupiter ähneln, also primär aus Wasserstoff und Helium bestehen. Noch kleinere Ausreißer gingen bisher vermutlich nur aus beobachtungstechnischen Gründen nicht ins Netz: Sie könnten einen festen, steinernen Mantel wie die Erde besitzen. Darin sollte der Zerfall von radioaktiven Isotopen wie Uran-238, Thorium-232 oder Kalium-40 auch längerfristig für Wärme sorgen.
Von einem darüber liegenden Eispanzer geschützt, mag es auch flüssiges Wasser geben. Wie eine neue Studie vorrechnet, müssten die dunklen Welten dazu über zwei Drittel bis dreieinhalb Erdmassen verfügen. Hydrothermale Tiefseequellen vorausgesetzt, tummelten sich im verborgenen Meer vielleicht sogar einfache Lebewesen.
Nur winziger Ausschnitt
Doch selbst die bisher entdeckten, mutmaßlich toten Gasplaneten von Jupiterformat müssen keineswegs langweilig sein - sofern sie über Monde verfügen. Auf den ersten Blick wären kleine Mondkörper zwar längst ausgekühlt. Kreisten diese jedoch in engen Orbits um einen Riesenplaneten, würden sie von dessen Gezeitenkräften gleichsam "durchgeknetet". Auch die so erzeugte Wärme ließe ihr Eis letztlich schmelzen und geheime Wasserreservoirs im Mondinneren entstehen. Bei einigen Trabanten in unserem eigenen Sonnensystem, etwa beim Saturnmond Enceladus oder beim Jupitermond Europa, gibt es starke Hinweise dafür.
Als die beiden Forscherteams ihre zehn Aufsehen erregenden Microlensing-Ereignisse registrierten, überwachten sie bloß einen winzigen Ausschnitt des Sternenhimmels. Auf die gesamte Milchstraße hochgerechnet, könnte es ihrer Schlussfolgerung nach hunderte Milliarden einsamer Welten von Jupiterformat geben, mehr als Sonnen. Getoppt würde diese Zahl aber wohl von der Schar kleinerer Planeten; sie werden ja noch leichter als die größeren Schwesterwelten aus ihren Sonnensystemen fortgeschleudert. Das All wäre demnach nicht nur "voller Sterne"- sondern in erster Linie ein Hort kosmischer Waisenkinder!
Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 20 Jahren astronomische Artikel für die Wiener Zeitung. www.himmelszelt.at