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Wallensteins Hauptquartier

Von Georg Christoph Heilingsetzer

Reflexionen

Die nordböhmische Kleinstadt Jitschin liegt heute malerisch im sogenannten "Böhmischen Paradies". Im Dreißigjährigen Krieg sollte sie zum prächtigen Zentrum des Herzogtums Friedland ausgebaut werden.


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Scharen von Menschen strömen bei Sonnenuntergang auf den Stadtplatz von Jitschin (Jicín). Wo tagsüber nur gähnende Leere herrschte, kommt nun so etwas wie Volksfeststimmung auf. Die Welt ist hier nämlich immer noch eine Scheibe - und zwar eine kleine, lautend auf den Namen Puck. Das Bruderduell im Eishockey gegen die Slowakei, auf eine Leinwand geworfen, vermag selbst in der beschaulichen Provinz die Leute aus ihren Häusern und am Ende gar aus der Reserve zu locken.

Auch im winterlichen Nebel hat Jitschin einen nostalgischen Reiz.
© Foto: Heilingsetzer

Wir sind hier am Rand des Naturschutzgebietes Ceský ráj, das auch "Böhmisches Paradies" genannt wird. Der zentral gelegene Wallensteinplatz bietet eine schöne Kulisse für die sportliche Auseinandersetzung der beiden Nachbarländer Tschechien und Slowakei. Wettstreite auf kriegerischem Gebiet waren es freilich, die den Namensgeber des Platzes, den berühmten Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein (1583-1634), genannt Wallenstein, zu einer Legende des Dreißigjährigen Kriegs haben werden lassen. Friedrich Schiller hat mit seinem Historiendrama "Wallenstein" zum Ruhm dieser historischen Gestalt wesentlich beigetragen.

Hauptstadt auf Zeit

Dem kaisertreuen Wallenstein hat es das vermutlich bereits im 12. Jahrhundert angelegte, im Jahr 1302 mit Stadtrechten versehene Jitschin zu verdanken, dass es sich zumindest für einige Jahre im Glanz einer Hauptstadt sonnen konnte. Nachdem es in Folge der schicksalhaften Schlacht am Weißen Berg im Jahr 1620, in der die rebellischen Böhmischen Stände besiegt wurden, in den Einfluss des bedeutenden Feldherrn gelangt war, blühte es auf. Nach der Ermordung Wallensteins im Jahr 1634 sank es wieder in den Rang einer Provinzstadt hinab.

In nur kurzer Zeit entfaltete Wallenstein ab 1621 in seiner rund 90 Kilometer nordöstlich von Prag gelegenen Residenz, die er zum Zentrum seines Herzogtums Friedland machte, eine beachtliche Bautätigkeit. So ließ der kaiserliche Generalissimus renommierte italienische Baumeister wie Andrea Spezza (1580-1628), Niccolò Sebregondi (1595-1652) und Giovanni Pieroni (1586-1654) kommen, um seine groß angelegten Pläne für Jitschin verfolgen zu können: Selbst die Gründungen eines Bistums, einer Universität und einer Reihe von Klöstern sowie die Umleitung der Iser in den die Altstadt umfließenden Fluss Zidlina waren vorgesehen.

Realisiert wurde immerhin einiges: der Ausbau des Schlosses am Marktplatz, das mit dem zur ehemaligen Stadtbefestigung gehörenden Walditzer Tor aus dem Jahr 1568, den kleinen Bürgerhäusern mit ihren schattigen Laubengängen, bunten Fassaden und roten Dächern und den zwei Wasser spendenden Brunnen ein märchenhaftes Ganzes bildet; die Errichtung der barocken, nach dem Tod Wallensteins turmlos gebliebenen St. Jakobskirche nach dem Vorbild der frühromanischen Kathedrale von Santiago de Compostela und die Gründung des Jesuitenkollegs bei der gotischen Ignatiuskirche.

Ferner wurden ganze Stadtviertel für Handwerker und Tuchmacher, weite Gärten, künstliche Teiche und eine aus 1300 Bäumen bestehende, vierreihige Lindenallee angelegt, die zum neuen Kartäuserkloster des benachbarten Orts Walditz führte.

Auch heute kann man es sich aussuchen, welchen der drei Wege zwischen den Baumreihen man beschreiten möchte. Nach rund eineinhalb Kilometern gemütlichen Gehens - Wallenstein wird geritten oder in einer Sänfte getragen worden sein - gelangt man zur Villa Libosad mit einer Loggia, die dem Pendant im Prager Wallensteingarten kaum an Eleganz nachsteht.

Wallensteins Ende

Zwei Jahre nach der meuchlerischen Mordnacht von Eger, die selbst die genauen persönlichen Horoskope des Mathematikers und Astronomen Johannes Kepler (1571-1630) nicht verhindern konnten, wurden die sterblichen Überreste Wallensteins auf Betreiben seiner Familie in die von ihm gestiftete Walditzer Kartause, die heute als Gefängnis fungiert, gebracht und dort bestattet. Nach der Aufhebung des Klosters aufgrund eines kaiserlichen Dekrets im Jahr 1782 fand der, wohl zu Unrecht des Hochverrats bezichtigte Wallenstein in der St. Annenkapelle des Kapuzinerklosters im Schlosspark von Münchengrätz, etwa 30 Kilometer nordwestlich von Jitschin gelegen, neben Lukretia von Landeck, der bereits 1614 verstorbenen ersten seiner drei Gemahlinnen, seine letzte Ruhe.

Das hufeisenförmige Schloss Münchengrätz, das Wallenstein mitsamt der dazugehörigen Herrschaft im Jahr 1623 als Konfiskat gekauft hatte, lohnt einen Besuch. Václav Budovec z Budova, der im Jahr 1621 am Altstädterring in Prag als einer der Anführer des Ständeaufstands hingerichtet wurde, hatte das Renaissanceschloss, das später durch die Familie Wallenstein umgebaut und erweitert wurde, errichten lassen. Beim Rundgang durch die prunkvollen Räumlichkeiten des Schlosses bekommt man reiche Interieurs, darunter Sammlungen von chinesischem, japanischem, Wiener- und Meißnerporzellan sowie Delfter Fayence-Porzellan zu Gesicht, aber auch die Waffenkammer, der Musiksalon und vor allem die Wallensteinsche Bibliothek können sich sehen lassen. Diese Bibliothek mit rund 22.000 Bänden wurde vom nordböhmischen Dux hierher übersiedelt. Sie enthält die Verlassenschaft des alternden Frauenhelden Giacomo Casanova (1725-1798), der im Alter als Bibliothekar auf dem Schloss Dux angestellt war und dort seine berühmten Memoiren "Histoire de ma vie" und andere Werke verfasst hat.

Häuserfassaden im historischen Zentrum der Stadt.
© Foto: Heilingsetzer

Im leicht gehügelten, von weiten Feldern sowie tiefen Wäldern bedeckten und Fischteichen benetzten Umland von Jitschin lassen sich viele weitere Schlösser und Burgen erkunden. Etwa die aus dem 14. Jahrhundert stammende, hervorragend erhaltene Burg Kost, deren drei sie umgebende Teiche durch Ziehen der Wehre das gesamte Tal fluten konnten und die Feste über die Jahrhunderte uneinnehmbar machten. Ein Steinwurf davon entfernt liegt das Jagdschloss Humprecht, eine Nachbildung des Galataturms in Istanbul. Die Ruine der gotischen Burg Trosky aus dem 14. Jahrhundert, die auf zwei weithin sichtbaren Vulkangipfeln thront - ihrer Gestalten wegen im Volksmund liebevoll "Jungfrau" und "altes Weib" genannt - gilt als Wahrzeichen des Böhmischen Paradieses und löste schon bei früheren Reisenden, etwa dem Naturforscher Alexander von Humboldt (1769-1859), der gar vom "Achten Weltwunder" sprach, Begeisterung aus.

Mystische Landschaft

Nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum Jitschins entfernt, breitet sich das erstaunliche Gebiet der Prachower Felsen (Prachovske skály) aus: eine ganze Landschaft von Sandsteinfelsen, die wie aus dem Nichts hoch aufragen. Auf einem Weg durch die eindrucksvolle Kaiserschlucht, nach Kaiser Franz I. (1768-1835) benannt, der 1813 hier zu Besuch gewesen sein soll, gelangt man höher, über Stufen und durch beklemmend enge Spalten kommt man zu Aussichtspunkten, von denen man eine Reihe der über 200, teilweise von Kletterern besetzten Felsentürme überblicken kann. Aber auch wenn dichter Nebel einfällt und einen Vorhang vor diese grotesken Steingebilde spannt, der sich erst öffnet, wenn man beinahe anstößt, kommen Menschen mit einem gewissen Hang zur Naturmystik auf ihre Rechnung.

Zurück nach Jitschin, wo am Samstagvormittag hektisches Treiben herrscht. Am Markttag werden in der Fußgängerzone ganze Gemüsegärten und Blumenbeete ausgebreitet, auch manches Huhn wechselt hier den Besitzer.

Nun hat man die Wege durch das Grünland vor den Toren der Altstadt ganz für sich allein. Und mit etwas Glück findet man den versteckt in der Nähe der Loggia gelegenen jüdischen Friedhof, auf dem ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, als bereits mehrere jüdische Familien in Jitschin ansässig waren, Begräbnisse stattfanden und die Großeltern mütterlicher Seite von Karl Kraus (1874-1936) begraben sind.

Karl Kraus aus Jitschin

Der österreichische Satiriker, Dramatiker und Zeitkritiker wurde in einem Eckhaus am Stadtplatz geboren, in dem sich heute - wie könnte es anders sein? - ein Schreibwarengeschäft befindet. Er war das neunte von zehn Kindern des zugewanderten Papierfabrikanten Jakob Kraus und Ernestine, der Tochter des Jitschiner Arztes Ignaz Kantor. Kraus senior hatte es mit der einfachen, damals in Österreich-Ungarn allerdings neuen Idee, geklebte Papiersäcke herzustellen, zu beträchtlichem Wohlstand und Ansehen gebracht.

Eine gut erhaltene Synagoge unweit des Wallensteinplatzes zeugt heute noch vom prosperierenden jüdischen Leben in der nordböhmischen Stadt. Ob sich Karl Kraus an das Gotteshaus und seine Geburtsstadt erinnern konnte, ist allerdings mehr als fraglich, zogen seine Eltern doch drei Jahre nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes in die Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie, wo der wortgewaltige Schriftsteller als Herausgeber der Zeitschrift "Die Fackel" und Autor des Buchdramas "Die letzten Tage der Menschheit" Berühmtheit erlangte.

"Was die Österreicher und die Deutschen am meisten trennt, ist die gemeinsame Sprache", soll Karl Kraus einmal gesagt haben. Dass es zwischen Österreichern und Preußen zuweilen schlimmere Scharmützel als Wortgefechte gab, nämlich die wohl größte Schlacht des 19. Jahrhunderts im Jahr 1866, lässt sich im Jitschiner Restaurant "U Delové Koule" ("Zur Kanonenkugel") ermessen. Dort werden neben hervorragenden böhmischen Gerichten auch museale Reminiszenzen an die kriegerischen Auseinandersetzungen der beiden damaligen Kontrahenten serviert.

Die in den Straßen von Jitschin zu Ende gegangenen Kämpfe im Vorfeld der für die Österreicher vernichtenden Niederlage bei Königgrätz (Hradec Králové) forderten Tausende Tote auf beiden Seiten, für die auch das Ossarium im zwei Kilometer entfernten Ort Kbelnice ein beredter Zeuge ist. Da lobt man sich doch die sublimeren Arten eines Wettkampfes, wie jene eines Eishockeyspiels, das in diesem Fall übrigens wieder einmal die Tschechen für sich entschieden haben.

Georg C. Heilingsetzer, geboren 1977, arbeitet als Psychologe sowie als freier Autor und Filmemacher. Er lebt teils in Wien, teils am Irrsee in Oberösterreich.