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"Wandel ist in unserer DNA verankert"

Von WZ-Korrespondent Fabian Kretschmer

Wirtschaft
Start-up-Fieber: Kang, Kim, Lim (l.o.) und Vonach (l.u.) in der Wirtschaftsmetropole Seoul.
© Kretschmer/reu

In Südkorea fehlen mittelgroße Unternehmen.


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Seoul. Wenn Roh Yong-seok das Dilemma der koreanischen Wirtschaft ausdrücken möchte, dann zeichnet der 45-Jährige ein Reißzweck-Diagramm in sein Notizbuch. Die dünne Spitze steht für die rund 3000 Konglomerate des Landes, allen voran Samsung, LG und Hyundai. Der breite Bodensatz, das sind die drei Millionen Kleinstunternehmen, meist geführt von älteren Ehepaaren, die durch Kündigungen in die Selbstständigkeit gedrängt werden. Die Hälfte von ihnen wird statistisch gesehen in weniger als zehn Jahren pleitegehen.

In der Mitte des Diagramms klafft ein riesiges Loch. Es zu füllen ist der Job von Roh, der sich im Auftrag der Regierung für ein nachhaltiges Wachstum mittelgroßer Unternehmen einsetzt. Für die koreanische Wirtschaft ist dies nicht weniger als die Hoffnung auf einen grundlegenden Paradigmenwechsel. "Der österreichische Mittelstand ist ein Vorbild für uns", sagt Roh.

Das Land droht in eine ernsthafte Krise zu schlittern: Drei Viertel des Bruttonationalprodukts werden durch Exporte generiert, doch sie fallen derzeit so stark wie seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr. Im Jänner sind die Exporte um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen, was vor allem am schwächelnden Nachbarn China liegt. Die südkoreanische Regierung braucht dringend ein neues Rezept, um weiter konkurrenzfähig zu bleiben.

Die Angst vorm Scheitern

Das Modell der großen Konglomerate, die von der Regierung zu den Flaggschiffen der Wirtschaft herangezüchtet wurden, hat ausgedient, ihre Dominanz ist zur Belastung geworden: Während Samsung und LG von massiven Steuervergünstigungen profitieren, geben sie zu wenig an die Gesellschaft zurück. Die fünf größten Unternehmen erwirtschaften mehr als 60 Prozent des Bruttonationalprodukts, stellen aber nur 8,5 Prozent der Arbeitskräfte ein.

Ausgerechnet in Gangnam, dem Nobelbezirk Seouls, soll nun ein Gegengewicht zu den großen Konglomeraten entstehen: Hunderte Start-ups haben sich hier angesiedelt, Co-Working Spaces werden trotz der horrenden Mieten gegründet, und auch Google hat seinen ersten Campus in Asien eröffnet. Mehr als 1,5 Milliarden Euro hat die Regierung in rund 100 Jungunternehmen investiert. Die erhofften Erfolgsgeschichten lassen auf sich warten, müssen die Start-ups doch erst mal ein generationenübergreifendes Erbe abschütteln.

"Es gibt in Südkorea eine tiefe Angst vorm Scheitern. Wir wollen die Unternehmenskultur von Grund auf ändern", sagt Jungwook Lim, Leiter der Start-up Alliance, der führenden Plattform für Jungunternehmer. In der konfuzianischen Gesellschaft entscheiden zu großen Teilen noch immer die Eltern über den Werdegang ihrer Sprösslinge. Selbständigkeit klingt für sie risikoreich, prekär, unseriös. Doch Lim weiß, dass sich das bald ändern wird: "Wandel ist uns Koreanern in der DNA verankert." Ein Blick auf die Vergangenheit gibt ihm recht.

Innerhalb von vier Jahrzehnten ist das Land vom bitterarmen Agrarstaat zur 14.-größten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen. Seit der Jahrtausendwende hat kein Land derart systematisch in Internettechnologien investiert wie Südkorea. Das Kalkül der Regierung war nicht zuletzt, das als "Einsiedlerkönigreich" verschriene Land global zu öffnen. Dabei hilft ihnen nun auch der Blick nach Österreich.

An diesem Montagmorgen sind über 50 Jungunternehmer zum Netzwerken in die Start-up Alliance gekommen. Die Wirtschaftskammer hat zum "Vienna Coffe Club" geladen, mit dabei sind ein Dutzend Firmenvertreter aus der Heimat.

Als Franz Schröder, Wirtschaftsdelegierter der österreichischen Botschaft, seine Heimat vorstellt, hat er leichtes Spiel. Klassische Musik, Alpenpanoramen, Kaffeehauskultur: Österreich genießt unter jungen Koreanern eine ungemeine Faszination. "Bei uns läuft manches ein wenig langsamer als in Korea, es gibt dafür weniger Druck", sagt Schröder. 40-Stunden-Wochen klingen für Seouls Jugend geradezu utopisch, genau wie ausgiebiger Mutterschutz und fünf Wochen Urlaub im Jahr.

Begegnung auf Augenhöhe

Bislang haben sich ein halbes Dutzend koreanischer Firmen in Österreich niedergelassen, umgekehrt sind es rund 60. Das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft. "Die Zusammenarbeit läuft bisher nicht, wie wir uns das gewünscht haben", sagt Lee Sang-keun, Vorstand des Korea Institute for Advancement of Technology. Bereits im Vorjahr habe man eine große Delegation nach Österreich geschickt, doch weitere Projekte seien daraus nicht entstanden. Es sind harsche Worte aus dem Mund eines Ostasiaten, sie entsprechen dem neugewonnen Selbstbewusstsein einer jahrzehntelang gebeutelten Nation.

Lees Werdegang ist typisch für den Aufstiegswillen seines Heimatlandes: Doktorat im Ausland, redegewandtes Englisch, bestimmtes Auftreten. Das kleine Korea, eingeengt zwischen den Riesen China und Japan, habe man lange unterschätzt. Spätestens seit Samsung die modernsten Smartphones auf den Markt wirft, LG die beliebtesten Flachbildfernseher und Hyundai gefragte Autos produziert, kann man die Koreaner nicht mehr ignorieren: "Erst seit wenigen Jahren begegnen uns die Europäer auf Augenhöhe."