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Wandel zur Sitzgesellschaft

Von Julia Hruschka

Wissen

Vermehrtes Sitzen ist auch ein Faktor für Erkrankungen. | Mensch hat sich an Sitzen angepasst. | Wien. Der Thron ist Ursprung und Inbegriff unserer Sitzkultur. Auf ihm vermittelte der Priesterkönig des Altertums zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen. Galt das Sitzen damals als Privileg der Mächtigen und Einflussreichen, ist der Sessel heute Gebrauchsgegenstand unseres Alltags. Und wir besitzen ihn im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr.


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Hajo Eickhoff, deutscher Philosoph und Kulturwissenschafter, spricht von einer Sitzgesellschaft, in der sich "die Menschen unserer Kultur immer in derselben eigenartigen Haltung, in der Körperhaltung rechtwinkelig abgeknickten Sitzens" begegnen. Kann tatsächlich von einem Wandel vom Homo erectus zum Homo sedens die Rede sein? Es ist die Zeitspanne zwischen dem Hinsetzen und dem Aufstehen, die zunehmend länger andauert und bei Medizinern daher Besorgnis erregt.

Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zählt Muskel- und Skeletterkrankungen zu den häufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsproblemen. Rücken- und Muskelschmerzen sind die meist genannten Beschwerden - einer der Auslöser dafür sei vermehrtes Sitzen.

Während des Sitzens wird das Becken auf die Sitzbeinhöcker gestellt und dreht sich nach hinten. Die normale Krümmung der Lendenwirbelsäule nach vorne wird in eine Streckhaltung übergeführt. Dadurch verstärkt sich der Druck in den vorderen Bandscheibenabschnitten. Auch wenn das Gefühl, eine bequeme Sitzposition eingenommen zu haben, vorhanden ist.

Der Internist und Arbeitsmediziner Christian Wolf bezweifelt jedoch, dass es eine reale Alternative zum Sitzen geben könnte, und appelliert an die Eigenverantwortung des Einzelnen: Das Sitzen sei nur ein Faktor von vielen, die die Gesundheit beeinträchtigen können. Auch die Ernährungsweise, Bewegungsgewohnheiten und genetische Veranlagungen seien dafür verantwortlich, ob und in welchem Ausmaß Menschen erkranken.

Dennoch warnt Wolf vor dem asymmetrischen Sitzen. Die Verdrehung des Oberkörpers kann zu Schmerzen im gesamten Wirbelsäulen-Bereich führen. Die beste Präventionsstrategie ist eine ergonomisch günstige Sitzposition.

Bereits Kinder klagen über Rückenschmerzen, oft liegen schon in jungen Jahren Haltungsschäden vor, betont Renate Satek, Schulärztin und Psychotherapeutin. Möglichkeiten der Vorbeugung sieht Satek in einer bewegten Pausengestaltung, in im Unterricht integrierten Bewegungs- und Entspannungsübungen, aber auch in mehr Ausgleichssport in der Freizeit.

Anpassung und Folgen

Uwe Pühse, Professor für Sportwissenschaften der Uni Basel, sieht einen Ursprung des Problems darin, "dass Kinder und Jugendliche in diese Immobilität hinein sozialisiert werden". Der Körper habe sich an die Anforderungen des Sitzens gewöhnt, meint Sportorthopäde Karl-Heinz Kristen. Ein nach vorgeschobener Kopf, ein sogenannter Sitzrundrücken, abgeschwächte Bauch- sowie Gesäßmuskulatur und eine verkürzte Hüftbeugemuskulatur sind Folgen des Sitzens.