Georg Fischer, Analyst des EU-Kommissars für Arbeit- und Soziales, zu Migration und Arbeitsmarktentwicklung
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"Wiener Zeitung": Seit 2008 und bis 2013 werden in Europa sechs Millionen Jobs verloren gegangen sein, die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordniveau. Wie wird sich die Wirtschafts- und Eurokrise auf lange Sicht auf die Beschäftigung in Europa auswirken?
Georg Fischer: Zunächst hat Europa die Finanzkrise ganz gut bewältigt. Wie sich die Eurokrise langfristig auswirken wird, kann im Moment niemand sagen. Aber wir müssen zunächst einmal diesen Einbruch aufholen, und das kann sehr lange dauern.
Wieso geht dieser Aufholprozess zum Beispiel in den USA deutlich schneller als in Europa?
Die USA haben im Moment ein funktionierendes makroökonomisches System und ein Währungssystem, das erlaubt, auf diese Entwicklung zu reagieren. Europa muss das erst entwickeln.
In Krisenstaaten wie Spanien und Griechenland ist die Arbeitslosigkeit weit stärker gestiegen als im Rest Europas. Fällt Europa in diesem Bereich auseinander?Im Moment besteht diese Gefahr. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass wir seit zwei Dekaden gewohnt sind, dass sich in Europa die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsdaten mehr und mehr annähern. Das ist seit 2008 eindeutig vorbei. Wenn wir dort wieder hinkommen wollen, müssen alle Mitgliedstaaten etwas tun. In manchen Staaten, etwa in Spanien, hat aber auch der Arbeitsmarkt auf den Wirtschaftseinbruch überreagiert. In anderen Staaten gibt es Institutionen, die erlauben, Einbrüche abzufangen - zum Beispiel durch Kurzarbeit oder Arbeitszeitkonten. Das müssen manche Mitgliedstaaten erst entwickeln.
In Südeuropa ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen explodiert, eine halbe Generation droht, in die Schwarzarbeit abgedrängt zu werden.
Wenn es keinen normalen Arbeitsmarktzugang gibt, besteht diese Gefahr. Unabhängig davon sind Jugendliche auch mehr von prekären oder befristeten Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Wenn die prekären Arbeitsverhältnisse eine längere Phase sind, dann ist das nicht mehr aufzuholen. Eine ganze Kohorte hat dann einen Einbruch in der Beschäftigungs-, Karriere- und Rentenperspektive.
Sie sprechen die "Generation Praktika" an.
Ja, hier ist auch die Politik gefordert. Die Kommission bereitet einen Qualitätsrahmen für Praktika vor, der im Dezember präsentiert werden soll. Ziel soll hier sein, sowohl die positiven Effekte - die Möglichkeit, in einen Job hineinzuschnuppern - zu berücksichtigen als auch Missbrauch zu reduzieren. Die Regierungen müssen gestalten, aber eine ganz wichtige Verantwortung liegt hier auch bei den Sozialpartnern.
In Deutschland und in Österreich gibt es Bestrebungen, hochqualifizierte Spanier anzuwerben. Wie beurteilen Sie die Entwicklung? Besteht die Gefahr eines Brain Drains?
Rein zahlenmäßig sehen wir eine solche Gefahr im Moment nicht. Die Süd-Nord-Wanderung in Europa nimmt zwar zu, allerdings sind die Absolutzahlen relativ gering. Die dominierende Wanderungsrichtung in Europa ist immer noch Ost-West.
Wandern die weniger Qualifizierten aus Spanien und Griechenland in die Schwarzarbeit zu?
Das wissen wir nicht. Es ist aber eine verwundbare Gruppe, die für Formen von Schwarzarbeit ein offenes Einfallstor ist.
Wie kann man Schwarzarbeit zurückdrängen?
Dabei spielen zwar Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge eine Rolle, aber eine entscheidende Frage ist, ob die Beschäftigten selbst in der Formalisierung ihrer Arbeit einen Vorteil sehen. Dazu müssen die Menschen das Vertrauen in einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat haben. Zweitens muss transparent sein, was mit den Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen passiert.
Generell steigt der Anteil der atypischen Beschäftigungsverhältnisse, ein nicht mehr ganz neues Phänomen ist das der Working Poor . . .
Wir sind in der Mitte eines solchen Wandlungsprozesses. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es in Europa eine zunehmende Polarisierung bei neu geschaffenen Jobs zwischen niedrig- und hochbezahlten Jobs, die Mitte fällt heraus. Das muss nicht notwendigerweise zu einem Anstieg bei den Working Poor führen, da dafür das Haushaltseinkommen gemessen wird. Dass die Zahl der Working Poor zunimmt, hängt also neben der Lohnstruktur auch mit der Haushaltstruktur (Alleinerzieherinnen et cetera) und mit der hohen Zahl der Teilzeitbeschäftigten zusammen. Auch das ist aber ein Feld, in dem sowohl die Politik wie auch die Sozialpartner gestalten können.
Georg Fischer (geboren 1952) studierte Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und in Warwick. Der Arbeitsmarktexperte arbeitete für die OECD. Derzeit ist er Direktor der Analyseabteilung von Arbeits- und Sozialkommissar Laszlo Andór in der Europäischen Kommission.