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Wanderer zwischen Welten

Von Christian Hütterer

Wissen
Galt in der Weimarer Republik als eine Kapazität in orientalischen Fragen: Lew Nussimbaum alias Essad Bey.
© Osburg Verlag

Vor siebzig Jahren starb in Positano ein Mann, dessen Biographie bis heute mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt: Im Leben von Lew Nussimbaum alias Essad Bey vermischten sich Fantasie und Wirklichkeit.


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Am 20. Oktober 1905 wurde Lew Abramowitsch Nussimbaum geboren, aber schon sein Geburtsort gibt das erste Rätsel auf: Während er selbst Baku als Geburtsstadt nannte, deuten alle noch existierenden Dokumente darauf hin, dass er tatsächlich in Kiew geboren wurde.

Nussimbaum hatte seine Herkunft stets ausgeschmückt: Seiner eigenen Darstellung nach war sein Vater ein reicher Prinz persisch-türkischer Abstammung, seine Mutter hingegen eine kommunistische Aktivistin. Der Legende nach verliebte sich Lews Vater in das Mädchen und heiratete es, um so dessen drohende Deportation nach Sibirien zu verhindern. Die Tatsachen jedoch lauten: Lew Nussimbaums Vater war ein Jude aus der Ukraine und in der boomenden Ölstadt Baku zu großem Reichtum gekommen.

Die Ehe der Eltern dauerte nicht lange, denn als der kleine Lew sechs Jahre alt war, beging seine Mutter Selbstmord. Ein deutsches Kindermädchen namens Alice Schulte übernahm die Pflege des Kindes, wurde ihm bald zu einer Ersatzmutter und brachte ihm Deutsch bei.

Nach dem frühen Tod seiner Mutter wurde der Bub von seinem Vater besonders behütet und wuchs - von anderen Kindern isoliert - in einem Palast in Baku auf. Nur selten unternahm die Familie Ausflüge, und so musste der Bub seine Fantasie benutzen, um sich die Welt außerhalb des Hauses auszumalen. Zeit seines Lebens blieb ihm diese lebhafte Vorstellungskraft erhalten, oft gewann sie die Oberhand über die Realität - selbst in seinen autobiographischen Werken verschmolzen Tatsachen und Erfundenes. Aber auch die Umbrüche der Geschichte erschweren die Suche nach dem wahren Lew Nussimbaum, denn viele Archive wurden in den Revolutionen und Kriegen des 20. Jahrhunderts zerstört.

Der "Pockennarbige"

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges kam es wie in ganz Russland auch im Kaukasus zu bürgerkriegsähnlichen Revolten. Vater und Sohn Nussimbaum flohen über das Kaspische Meer nach Usbekistan und Persien, von wo aus sie schließlich wieder nach Baku zurückkehrten. Aserbaidschan wurde nach einer kurzen Zeit der Unabhängigkeit von bolschewistischen Truppen besetzt.

Nussimbaum lernte in dieser Zeit Stalin kennen, den er Zeit seines Lebens den "Pockennarbigen" nannte und über den er Jahre später eine Biographie schreiben sollte. Nach dem Sieg der Bolschewiken entschied sich der Vater, Aserbaidschan endgültig zu verlassen, und so verlor Lew im Alter von 14 Jahren seine Heimatstadt Baku, an die er stets mit Sehnsucht zurückdenken sollte.

Die Flucht führte die Familie über Tiflis, Istanbul und Rom nach Paris. Dort konnten die beiden noch im gewohnten Reichtum leben, denn der Vater verkaufte seine Rechte an den aserbaidschanischen Ölfeldern. Als das Geld aber nach einiger Zeit zur Neige ging, zog die Familie in das billigere Berlin. Nach seiner turbulenten Jugend kam Lew Nussimbaum in Deutschland zur Ruhe, die Familie lebte in der russischen Exilgemeinde und der junge Mann lernte Autoren wie Vladimir Nabokov oder Boris Pasternak kennen.

Er begann an der Friedrich-Wilhelms-Universität orientalische Sprachen und Geschichte zu studieren, und bei der Inskription verwendete Nussimbaum zum ersten Mal jenen Namen, unter dem er bekannt werden sollte: Essad Bey. Seine Hinwendung zu allem Orientalischen gipfelte darin, dass er 1922 auf der türkischen Botschaft in Berlin zum Islam konvertierte. Ab diesem Zeitpunkt scheint es, als habe Lew Nussimbaum nie existiert, es gab nur mehr Essad Bey, dessen Herkunft aber ungeklärt blieb.

Orient-Experte

In weiten orientalischen Gewändern und mit einem Dolch bewaffnet, erregte Nussimbaum Aufsehen in den Salons von Berlin. Zugleich gelang es ihm, innerhalb kurzer Zeit in Künstlerkreisen Fuß zu fassen, und gleich der erste schriftstellerische Versuch des erst 24-Jährigen wurde zu einem Erfolg: In dem Buch "Öl und Blut im Orient" beschrieb er seine Flucht vor den Kommunisten durch Zentralasien. Mit weiteren Publikationen über den Kaukasus erwarb sich Nussimbaum den Ruf eines Experten für diese Region. In der Weimarer Republik galt er bald als eine der größten Kapazitäten in orientalischen Fragen.

In Nussimbaums Darstellungen ist das "rätselhafte, oft beschriebene und viel bewunderte Land des Kaukasus" ein beinahe magischer Ort, an dem die wichtigsten Kulturen der Welt zusammentreffen und ihre Vertreter in einem nahezu idyllischen Frieden miteinander leben können. Das Land ist "europäisch und asiatisch zugleich, vom Westen und vom Osten empfangend und beiden gebend". Dieses harmonische Lebensgefühl kulminierte in der Stadt Baku: "Bunte Menschen schreiten durch ihre Straßen, über alle Rassen und alle Sprachen weht der Wind den Sand der großen Wüste, Russen und Aserbaidschaner, Georgier und Perser, Armenier und Juden, Schweden und Deutsche, Polen und Griechen."

Mit der Veröffentlichung seines ersten Buches begann eine Phase von enormer Produktivität. Als Nussimbaum zwölf Jahre später starb, hatte er neben unzähligen Zeitungsartikeln siebzehn Bücher geschrieben und in vielen Ländern Vorträge gehalten. Seine Veröffentlichungen wurden im Laufe der Zeit immer politischer und Nussimbaum wandelte sich von einem Darsteller des idyllischen Kaukasus zu einem Autor, der vor allem gegen den Kommunismus und Stalin anschrieb.

Nussimbaum heiratete 1932 Erika Loewendahl, die Tochter eines reichen Fabrikanten, und veröffentlichte im gleichen Jahr eine Biographie des Propheten Mohammed, die eines seiner erfolgreichsten Bücher wurde. Als im folgenden Jahr die Nationalsozialisten an die Macht kamen, stieß Nussimbaums antikommunistische Haltung auf Gefallen und er konnte der Reichsschrifttumskammer beitreten. Nussimbaum war zu dieser Zeit auch außerhalb Deutschlands äußerst populär, als er etwa eine Reise nach Amerika unternahm, berichtete sogar die "New York Times" über seine Ankunft.

Der tiefe Fall folgte allerdings bald, und 1936 musste Nussimbaum zwei große Rückschläge verkraften. Die deutschen Behörden erfuhren von seiner jüdischen Herkunft, er wurde aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und durfte in Deutschland nicht mehr publizieren. Gerade in dieser für ihn schwierigen Phase verließ ihn seine Frau wegen eines anderen Mannes. Der folgende Scheidungsprozess wurde in den Medien breitgetreten und Erika Loewendahl beklagte in aller Öffentlichkeit, dass ihr Mann sie getäuscht hatte und kein Prinz aus dem Morgenland, sondern "einfach nur Lew Nussimbaum" sei. Nach diesen Enttäuschungen entschloss sich Nussimbaum, Deutschland zu verlassen und nach Wien zu übersiedeln.

Weiteres Pseudonym?

Noch im gleichen Jahr erschien der Roman "Ali und Nino", der von einer gewissen Kurban Said verfasst worden war und in dem die Autorin ihre Leser in den Kaukasus entführt. Erzählt wird darin die Geschichte des aserbaidschanischen moslemischen Prinzen Ali, der sich in die christliche georgische Adelige Nino verliebt und sie heiratet. In dieser Liebesgeschichte wird der Kaukasus wiederum als Schmelztiegel dargestellt, der Orient und Okzident vereint und in dem unterschiedliche Völker friedlich miteinander leben.

Die Erdölfunde und der damit einsetzende Reichtum führen zum Aufbruch in die Moderne, bringen aber auch Unruhe in das idyllische Leben. Symbolisch wird dies dargestellt, als ein Nebenbuhler Nino in einem Auto entführt und mit ihr Richtung Westen flüchtet. Ali gelingt es, die beiden zu Pferd einzuholen und sich an seinem Rivalen blutig zu rächen. Dieser Sieg des Archaischen über das Moderne ist aber nur von kurzer Dauer, denn der Erste Weltkrieg bricht bald darauf aus. Die gute, alte Zeit endet mit dem Einmarsch der Bolschewiken in Baku, und während Nino mit dem gemeinsamen Kind flüchten kann, fällt Ali bei der Verteidigung der Stadt.

Der Roman war sehr erfolgreich, allerdings ist bis heute unklar, wer ihn eigentlich schrieb. In manchen Ausgaben von "Ali und Nino" wird Kurban Said als Pseudonym der Baronin Elfriede Ehrenfels von Bodmershof angegeben. In der von Tom Reiss verfassten und lesenswerten Biographie von Leo Nussimbaum alias Essad Bey wird allerdings ausgeschlossen, dass Ehrenfels "Ali und Nino" alleine verfasst hat.

Manches deutet darauf hin, dass Ehrenfels und Nussimbaum gemeinsam diesen Bestseller schrieben; andere Biographen gehen davon aus, dass Nussimbaum das Buch geschrieben hat und der Roman unter Ehrenfels’ Namen erschien, um das Publikationsverbot in Deutschland zu umgehen.

Schmerzhaftes Ende

Fest steht, dass die Verträge mit dem Verlag von Elfriede Ehrenfels unterschrieben wurden, dementsprechend gingen auch die finanziellen Erträge des Buches an sie. Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit: In Nussimbaums Heimat Aserbaidschan gilt Yusif Väzir Çämänzäminli als Autor von "Ali und Nino". Çämänzäminli war neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller nach dem Ersten Weltkrieg Diplomat in den Diensten des kurzlebigen aserbaidschanischen Staates und starb später in einem Lager des Gulag.

Tatsache ist, dass Nussimbaum 1938 nach Italien reiste, weil er dort - wie er zumindest selbst behauptete - eine Biographie Mussolinis schreiben sollte. Auf dieser Reise begleiteten ihn starke Schmerzen; nach der Ankunft im Fischerort Positano wurde die Diagnose Morbus Raynaud erstellt, eine Gefäßerkrankung, die von den Zehen aufsteigend den ganzen Körper befällt. Nussimbaum bekämpfte sein Leiden mit Morphium und versuchte, seine Tantiemen einzutreiben. Durch die Wirren des Krieges wurde es allerdings immer schwieriger, zu Geld zu kommen, und schließlich war jener Mann, der in verschwenderischem Reichtum aufwuchs, auf Almosen angewiesen.

Nussimbaums früheres Kindermädchen Alice Schulte kam nach Positano und kümmerte sich - wie schon am Beginn seines Lebens - um ihn. In seinen letzten Monaten schrieb Nussimbaum an einem Buch, in dem sich wie so oft Erlebtes mit Erfundenem vermischt. Es beginnt mit den Worten: "Der Schmerz ist stärker als das Leben." Am 27. August 1942 besiegte der Schmerz das Leben endgültig.

Literatur: Tom Reiss: Der Orientalist. Auf den Spuren des Essad Bey. Osburg Verlag, Berlin 2008.Christian Hütterer, geboren 1974, ist im EU- und Internationalen Dienst der Parlamentsdirektion tätig.