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Wann ist das Spitalssystem überfordert?

Von Simon Rosner

Politik

Bisher galt: Ab 700 Corona-Intensivfällen wird es kritisch. Doch bereits ab 200 müssen Spitäler Leistungen einschränken.


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Die Republik steuert auf einen fundamentalen gesellschaftlichen Konflikt zwischen geimpften und ungeimpften Personen zu, begleitet von einem tiefen Missverständnis der beiden Gruppen für die jeweils andere Position. Die gegenwärtigen Debatten dürften aber nur ein Vorspiel auf das sein, was in einigen Wochen droht. Dann, wenn immer mehr Covid-19-Fälle in den Spitälern behandelt werden müssen und sich die Regierung zum Handeln gezwungen sieht.

"Wir wollten immer eine Überforderung der Spitäler verhindern, und das muss weiter das Ziel sein", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Juli. Das gilt auch jetzt noch. Der Lockdown, und gemeint ist in diesem Fall die Ausgangsbeschränkung, wurde im Vorjahr auch rechtlich mit dem "drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung oder ähnlich gelagerten Notsituationen" verknüpft.

Mit dieser Formulierung war bisher die Triage gemeint. Das bedeutet, dass nicht mehr alle Notfälle behandelt werden können und Ärzte auswählen müssen, wem das Leben gerettet werden soll. Das war das Szenario, das im März 2020 in der Lombardei schreckliche Realität wurde und das in Österreich um jeden Preis verhindert werden sollte.

Zum einen wurden deshalb Kontaktbeschränkungen bis hin zum Lockdown verhängt, zum anderen wurde in den Krankenhäusern fast alles der Behandlung von Covid-19 untergeordnet. Schrittweise wurden Operationen verschoben, Stationen geschlossen und Personal wurde aus anderen Bereichen abgezogen. Ende November konnte man dadurch gleichzeitig mehr als 700 Covid-19-Erkrankte auf einer Intensivstation versorgen, in der Frühlingswelle waren es bis zu 615.

Dieser Kraftakt hatte einen Preis. Einerseits musste ihn das Spitalspersonal mit Überlastung begleichen, anderseits wurden andere medizinische Leistungen deutlich zurückgefahren. Vor allem im ersten Lockdown, als die Spitäler vorsorglich in den Notbetrieb gingen, zeigte sich eine sehr starke Reduktion von stationären Aufnahmen anderer Erkrankter. Eine genaue Folgeabschätzung liegt zwar nicht vor, von medizinischen Kollateralschäden kann aber ausgegangen werden.

Florida zeigt: Es kann nach wie vor dramatisch werden

Das ist für die politische Steuerung der Pandemie für diesen Herbst von Relevanz. Bisher war es weitgehend unstrittig, im Fall der Fälle ein Maximum an Intensivbetten für Covid-19 freizumachen. Denn bis auf die Hygieneregeln gab es keine Möglichkeit des Schutzes. Als kritische Grenze wurde eine Auslastung von 33 Prozent definiert. Bei rund 2.000 Intensivbetten in Österreich wird es bei 700 Covid-Patienten ernst.

Nun gibt es eine Impfung, die zwar nicht alle, aber die allermeisten schweren Verläufe verhindert. In Wien, wo derzeit 20 Intensivpatienten liegen, ist kein einziger vollimmunisiert. Und auch in anderen Bundesländern sind geimpfte Covid-19-Erkrankte auf Intensivstationen extrem selten, auch wenn es sie gibt. Relevanter ist, dass sich 40 Prozent der Bevölkerung bisher noch nicht impfen haben lassen.

Wie dramatisch es nach wie vor, trotz Impfungen, zugehen kann, ist derzeit in Florida zu sehen, wo die Hälfte der Bevölkerung noch nicht vollimmunisiert ist. Dort führt die Delta-Variante gerade zu den meisten Intensivpatienten und auch Todesfällen - fast alle ohne Impfschutz.

Die Szenarien für Österreich weisen bisher nicht auf eine Wiederholung des Novembers 2020 hin. Aber es gibt viele Unsicherheiten. So ist man zuletzt von einer Impfwilligkeit von mehr als 70 Prozent der Bevölkerung ausgegangen, was sich bisher aber nicht materialisiert. Derzeit erhalten täglich kaum mehr als 2.000 bis 3.000 Menschen die erste Dosis, bei 60 Prozent scheint vorerst ein Plafond erreicht.

Drei Faktoren entscheidend

Wie viele Infektionen das heimische Gesundheitssystem "verträgt", hängt aber nicht nur davon ab. Klar ist, dass mit den Formeln des Vorjahres, als etwa eine Person von hundert Infizierten Wochen später auf der Intensivstation landete, nicht mehr gerechnet werden kann.

Florian Bachner von der "Gesundheit Österreich GmbH" nennt drei nun maßgebliche Faktoren: die Altersstruktur der Infizierten, ihr Immunstatus und die sogenannte Virulenz der nun grassierenden Delta-Variante. Darunter ist zu verstehen, wie krankmachend das Virus ist. Denn das ist unterschiedlich. Bei der britischen Variante im Frühjahr erkrankten zum Beispiel doppelt so viele Infizierte schwer. Auch Delta dürfte in dieser Hinsicht problematisch sein.

Wie viele Fälle für das Gesundheitssystem verkraftbar wären, hängt aber auch davon ab, was unter der Überforderung des Systems zu verstehen ist. So wie bisher die Triage? Denn bereits bei einer Auslastung der Intensivstationen von zehn Prozent, das wären rund 200 Fälle, muss laut Bachner mit dem Verschieben von Operationen begonnen werden. Ab dieser Grenze beginnen die ersten, noch kleinen Kollateralschäden im Gesundheitsbereich.

Blieben die drei oben genannten Faktoren gleich, wären nach Berechnung der Gesundheit Österreich etwa 10.000 Fälle täglich notwendig, um wieder an die systemgefährdenden 33 Prozent zu gelangen. "Für die Zehn-Prozent-Grenze wären es 3.100 Fälle täglich", sagt Bachner. Doch er sagt auch, dass sich bereits andeute, dass sich die Altersstruktur verändert. "Es ist plausibel, dass das Infektionsgeschehen im Herbst auch wieder auf ältere Kohorten überschwappen und dort primär bei Nichtimmunisierten für schwere Verläufe sorgen wird."

Würden sich die Altersgruppen der derzeit Ungeimpften gleich verteilt infizieren, wäre die 33-Prozent-Grenze bei rund 6.100 Fällen täglich erreicht. Doch das wäre der Extremfall, wenn sonst nur Notfälle behandelt werden würden. Bereits bei 1.800 Fällen täglich wäre damit zu rechnen, dass mit Verzögerung weniger Wochen die 10-Prozent-Grenze der Intensivstationen erreicht wird und die ersten Operationen verschoben werden müssen. Das hätte dann unmittelbare Auswirkungen auf alle, also auch auf die Gruppe der Geimpften. Am Mittwoch wurden bereits 1.221 Neuinfektionen gemeldet.