Die russische Propaganda lebt vom Grundnarrativ eines bewaffneten Konfliktes, den der Westen begonnen habe.
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Über viele Monate hat der Kreml in Bezug auf die Kampfhandlungen in der Ukraine den Begriff "Krieg" zu meiden versucht. Doch ist dies mittlerweile nicht mehr der Fall. Präsident Wladimir Putin und die russische Staatspropaganda sind dazu übergegangen, den Begriff "Krieg" mit Blick auf die Ereignisse in der Ukraine regelmäßig zu verwenden. Allerdings sehen sie dabei Russland nicht im Krieg mit der Ukraine, sondern in einen Krieg mit dem gesamten Westen verwickelt. In dieser Vorstellung tritt die Ukraine nicht als ein aktives Subjekt der Geschehnisse auf, sondern vielmehr als ein passives Objekt - als das Schlachtfeld des globalen geopolitischen Konfliktes zwischen Russland und den USA.
Das Grundnarrativ des Kreml lautet dabei: Die ukrainische Führung sei aufgrund des durch den Westen unterstützten Staatsstreiches im Jahr 2014 für Russland illegitim geworden. Die einzige Möglichkeit der Legitimitätserlangung habe in der Umsetzung der Minsker Abkommen bestanden. Die Regierung Kiew habe jedoch mit Rückendeckung des Westens die Umsetzung verweigert und unter der "Federführung der USA und ihrer Vasallen" der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass den Krieg erklärt und im Verlauf von acht Jahren Akte des Genozids gesetzt. Nachdem der Westen die Ukraine auch noch für seinen Kampf gegen Russland instrumentalisiert habe, sei die "Spezialmilitäroperation" überhaupt erst notwendig geworden.
Die inoffizielle Kriegserklärung des Westens
Putin betont bei seinen Auftritten, Russland habe keine Kampfhandlungen begonnen, sondern trachte den "von ukrainischen Nationalisten initiierten" Krieg zu beenden. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ging in dieser Argumentation noch einen Schritt weiter und behauptete vor kurzem, "der kollektive Westen unter der Führung der USA" habe Russland bereits im Jahr 2014 den Krieg erklärt. Die inoffizielle Kriegserklärung sei unmittelbar nach dem "von den USA mit Unterstützung der EU orchestrierten Staatsstreich in der Ukraine" erfolgt, so der langjährige russische Chefdiplomat. Und Margarita Simonjan, führende russische Propagandistin und Chefredakteurin des staatlichen Medienunternehmens "Rossija Segodnja" ("Russia Today"), stellte in einem ihrer jüngsten Interviews unmissverständlich fest, dass Russland den Krieg gegen die gesamte Nato führe. Dies erkläre aus ihrer Sicht auch die Dauer des Konfliktes.
Mithilfe dieses Grundnarrativs zieht die russische Führung schamlos historische Scheinparallelen zum Feldzug Napoleons gegen das Russische Reich und den Überfall Adolf Hitlers auf die Sowjetunion und versucht auf diese Weise, die Geschichtspolitik zu instrumentalisieren und die eigene Bevölkerung auf einen langen, entbehrungsreichen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner um das Überleben Russlands einzuschwören.
Ungeachtet der unermüdlichen Bemühungen scheint der Erfolg dieses Unterfangens allerdings alles andere als gesichert zu sein. Die Herausforderung beginnt bereits beim Begriff "Krieg" und der Einstellung der russischen Bevölkerung gegenüber diesem Phänomen. Nach Ansicht der Experten des renommierten regierungskritischen Meinungsforschungsinstituts Levada wird im kollektiven Bewusstsein der russischen Bevölkerung unter dem Begriff "Krieg" traditionell ein Weltkrieg verstanden (genauer: ein atomarer Weltkrieg).
Ferner kann ein (echter) Krieg nach Ansicht der Bevölkerung nur auf russischem Boden stattfinden. Das unter Wladimir Putin zum Staatskult erhobene Gedenken an den "Großen Vaterländischen Krieg" (den Kampf der Sowjetunion gegen NS-Deutschland 1941 bis 1945) trägt wesentlich dazu bei. Kriegshandlungen außerhalb Russlands werden dagegen von der Gesellschaft als - mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfordernde - begrenzte bewaffnete Auseinandersetzungen beziehungsweise Friedens- und Unterstützungseinsätze unter Beteiligung russischer Streitkräfte verstanden und im Alltag weitgehend ausgeblendet.
Keine patriotische Begeisterungswelle
Diese Eigenart der russischen Gesellschaft kam dem Kreml bisher sehr gelegen und wurde zu propagandistischen Umdeutungszwecken stets herangezogen; insbesondere mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der von Beginn an als bloße "Spezialmilitäroperation" abgetan wurde. Doch mittlerweile dürfte diese besondere Auffassung des Phänomens Krieg für Russlands Führung zu einer ernst zu nehmenden Herausforderung werden.
Die zunehmende Dauer des Krieges, der bereits vor Monaten in die Phase des Abnützungskrieges übergegangen ist, sowie das intensive internationale Sanktionsregime zwingen den Kreml zu immer mehr unpopulären Entscheidungen. Die negativen Folgen dieser Entscheidungen wird die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in ihrem - bisher weitgehend nur wenig gestörten Alltag - zunehmend zu spüren bekommen. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird damit endgültig in die Wohnzimmer und das Bewusstsein der Menschen Eingang finden, verstören und Unmut schüren. Einen ersten Vorgeschmack auf potenzielle Proteste boten die landesweiten negativen Reaktionen auf die sogenannte Teilmobilmachung im September 2022.
Mit weiteren unpopulären Entscheidungen bei einer gleichzeitigen sanktionsbedingten Verschlechterung der Lebensbedingungen werden die Grenzen der sprichwörtlichen Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung auf eine sehr harte Probe gestellt. Denn eine patriotische Konsolidierung wie im Jahr 2014 rund um die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim scheint äußerst unwahrscheinlich zu sein. Schließlich bekamen damals die meisten Russen die sanktionsbedingten Folgen der Krim-Annexion und des Donbass-Krieges in ihrem Alltag so gut wie nicht zu spüren. Auch ist die symbolische Bedeutung der Krim sowie der Stadt Sewastopol im historischen Bewusstsein der russischen Bevölkerung ungleich höher bemessen als die weitgehend bedeutungslosen Ende September 2022 quasi-annektierten Regionen der Ukraine.
Schließlich blieb auch von patriotischer Aufbruchsstimmung und allgegenwärtiger Begeisterung des "Russischen Frühlings" im Jahr 2014 nichts zurück. Vielmehr machte der traditionell kurze "Russische Frühling" endgültig dem langen, kalten und trostlosen "Russischen Herbst" Platz. Insofern wird den unermüdlichen Bemühungen der russischen Staatspropaganda zum Trotz die Umdeutung des Angriffskrieges gegen die Ukraine in einen Überlebenskampf Russlands gegen den kollektiven Westen wohl kaum als Rechtfertigung für zahllose Entbehrungen angenommen werden. In einen neuen "Vaterländischen Krieg" um die jüngsten Gebietserweiterungen wird die russische Bevölkerung mitnichten ziehen wollen.