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Die Flüchtlingskrise erreicht das Theater. Geht es dabei um Kunst oder Sozialarbeit - oder um beides?
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Wien. "Wir leben. Hauptsache, wir leben." Der Satz aus Jelineks Bühnenstück "Die Schutzbefohlenen" führt im Meidlinger Theater Werk X zu einem großen Theatermoment. Auf der kahlen Betonbühne stehen rund 30 Menschen, Männer, Frauen, Kinder - Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan: Sie spielen Jelinek. "Wann sind wir wieder wer?" Eine Frau in Jeans und lose um den Kopf geschlungenen Tuch spricht den Satz ins Mikrophon. Stille im voll besetzten Bühnenraum. Wer vermag den Heimatlosen zu antworten?
Diesen Sommer sind die Akteure auf der Bühne in Traiskirchen angekommen. Zu der Zeit, als Berichte über die verheerenden Zustände im Aufnahmelager publik wurden, haben Tina Leisch, Bernhard Dechant und Natalie Assmann auch den Verein "Die schweigende Mehrheit" gegründet. Begonnen hat der künstlerische Protest mit Mahnwachen in der Wiener Innenstadt; bald sind die Theatermacher ins Aufnahmelager gefahren, haben ihre Hilfe angeboten und Asylanten ausfindig gemacht, die bereit waren, an einem Theaterprojekt teilzunehmen. "Jeder konnte mitmachen", sagt Leisch. Seit September spielte die Schauspielertruppe nun auf diversen Spielstätten und Plätzen, auf Straßenfesten und Demonstrationen. "Dieses Stück hat unser Leben verändert", sagt der 25-jährige Syrer Johnny Mhanna.
Am Theater stehen Krieg, Vertreibung und Asyl seit je auf dem Spielplan. Aischylos Drama "Die Schutzflehenden" handelt davon, und auch Jelinek bezieht sich in ihrer aktuellen Aufarbeitung "Die Schutzbefohlenen" auf die antike Vorlage. Ihr Stück, 2013 uraufgeführt und seitdem vielfach auf deutschsprachigen Bühnen gespielt, ist zum Flüchtlingsstück schlechthin geworden - weil sich die politischen Ereignisse überschlagen: Krieg, Flucht, Terror dominieren die Schlagzeilen.
Kunst, die hilft
Und wie verhält sich das Theater in dieser Situation? Viele Bühnen engagieren sich mit Aktionen, versuchen Asylsuchenden konkret zu helfen - von Benefizaufführungen über Spendenaktionen bis zu Spielclubs, Workshops und Publikumsdiskussionen gibt es kaum ein Haus, das kein Zeichen setzt, nicht Stellung bezieht.
Kultureinrichtungen begreifen sich derzeit weit über den Bildungsauftrag hinaus als Arenen für gesellschaftspolitische Diskussionen. Engagierte Künstlerinnen und Künstler mischen sich ein.
Die Internetplattform nachtkritik.de sammelt Beispiele für Hilfsaktionen im gesamten deutschsprachigen Raum; die Liste wird täglich länger. Die Theaterlandschaft repolitisiert sich. Aber zeitigt die Flüchtlingsproblematik auch neue künstlerische Ergebnisse? Geht es um Sozialarbeit - oder lässt sich beides verbinden?
Das jüngste Beispiel für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema ist Yael Ronens Stückentwicklung "Lost and Found" (Premiere ist am 18. Dezember im Volkstheater). Darin geht es um eine Wiener Familie, die damit konfrontiert wird, dass ein Verwandter aus dem Irak geflohen ist und nun an der ungarischen Grenze darauf wartet, von der lieben Familie abgeholt und nach Wien gebracht zu werden. Was auf den ersten Blick einer kruden Collage aus Medienberichten gleicht, basiert auf wahren Tatsachen. Die israelisch-österreichische Regisseurin ist bekannt dafür, dass sie sich in ihren Bühnenprojekten mit großen Konflikten auseinandersetzt, Krieg gehört zu ihrem szenischen Repertoire.
Im Burgtheater setzt man ebenfalls auf Aktualität: In "Hotel Europa" wird Regisseur Antú Romero Nunes, angelehnt an Joseph Roths Kriegsheimkehrerroman "Hotel Savoy", ein Projekt entwickeln, das die Transitbewegungen durch Europa auf die Bühne bringen wird (Premiere ist am 11. Dezember im Akademietheater).
Zum sozialen Engagement hat sich hingegen die Josefstadt entschlossen. Die Mitarbeiter des Theaters ermöglichen auf eigene Kosten zwei Familien einen Neubeginn in Wien. Eine Irakerin mit zwei Kindern, 14 und 17 Jahre alt, und eine dreiköpfige syrische Familie mit acht Monate altem Baby haben die von den Josefstädtern bezahlten Wohnungen bezogen, werden in der Kantine verköstigt, bei Behördengängen unterstützt und besuchen Deutschkurse. Kunst, die hilft.
Auftritt im Schutzraum
"Wir fühlen uns verantwortlich", sagt Regisseurin Tina Leisch. Wer mit Flüchtlingen Kunst mache, habe sich, sagt die Theatermacherin, auch für deren Lebensumstände außerhalb der Probenzeiten zu interessieren. "Die schweigende Mehrheit" versteht sich deshalb ausdrücklich als Kunst- und humanitäres Projekt, das Fahrrad- wie Kung-Fu-Kurse anbietet, Wohnungen und medizinische Hilfe organisiert. Die alerte Truppe rund um Leisch wächst schier über sich hinaus, setzt Stein und Bein in Bewegung, um die soziale Integration ihres "Ensembles" zu befördern.
Die Arbeit auf der Bühne stärkt auch das Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl. Leisch sagt: "Es gibt den Menschen etwas von ihrer Würde zurück." Die Proben und Auftritte sind zudem willkommene Abwechslungen im drögen Alltag des Flüchtlingscamps. "Ich dachte, dass ich viele Jahre nicht mehr Theater spielen werde", sagt Johnny Mhanna. In seiner ehemaligen Heimatstadt Damaskus war er Schauspieler, nun steht er bei den "Schutzbefohlenen" auf der Bühne - und präsentiert einen Monolog aus dem syrischen Stück "Der König ist der König" von Saadallah Wannous.
Die Inszenierung im Werk X agiert freihändig mit Jelineks Vorlage, dafür behutsam mit den Darstellern. Der Auftritt im Chor findet wie in einem Schutzraum statt, um die personifizierte Authentizität nicht auszunutzen. Niemand soll bloßgestellt werden. Ein Deutschkurs bildet die eigens entwickelte Rahmenhandlung: Der Schauspieler Bernhard Dechant agiert als Deutschlehrer und Passagen aus Jelineks Text stellen so etwas wie das Lehrbuch dar; unterbrochen werden die chorischen Rezitationen von Interviews, in denen die Flüchtlinge zu Wort kommen. "Dabei haben wir die Standardfragen - wieso bist du hierhergekommen, was hast du auf dem Weg erlebt - eher vermieden", sagt Leisch. "Wir haben Fragen über Freizeit, Träume und Interessen gestellt." Leisch hat in ihrer künstlerischen Laufbahn häufig mit sozialen Randgruppen, an gesellschaftlichen Konfliktzonen gearbeitet - mit Obdachlosen, Gefangenen, Patienten der Psychiatrie. "Ich will die Verhältnisse nicht so hinnehmen, wie sie sind. Die Kunst erlaubt Utopien", so Leisch. "Das Theater ist ein Freiraum, ein ideales Experimentierfeld, um gesellschaftliche Situationen zu analysieren. Es ermöglicht, mit schwierigen Situationen auch spielerisch umzugehen."
Bleibt zu hoffen, dass es auch abseits drängender Aktualitäten um Nachhaltigkeit geht. Das Projekt "Die schweigende Mehrheit" macht’s vor. Hier wird an der nächsten Aktion gearbeitet. Flüchtlinge sollen bald in einem Traiskirchen-Musical zu sehen sein.
Schutzbefohlene performen
Jelineks Schutzbefohlene
Wh.: 14. 12. Schauspielhaus Wien
18. 12. Brunnenpassage
Nach jeder Aufführung gibt es eine Gesprächsrunde. Der Verein wünscht sich, dass viele Bühnen und andere Veranstaltungsorte die Aufführung zu einem Gastspiel einladen. Mithilfe ist möglich: Auf der Homepage wird veröffentlicht, was gebraucht wird.
Info: www.schweigendemehrheit.at