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War der Nachbar auch ein Spitzel?

Von Martyna Czarnowska, Posen

Politik

Wildsteins Liste. Kein Name löst in Polen derzeit mehr Emotionen aus als der des polnischen Publizisten. Er hat die im Internet abrufbare Zusammenstellung von bis zu 240.000 Namen zugänglich gemacht, auf der sich sowohl Spitzel befinden als auch Personen, für die sich die Staatssicherheitsdienste des polnischen Regimes interessiert haben. Hunderte von Menschen strömen nun täglich in die Filialen des Instituts der Nationalen Erinnerung (IPN), um ihre Namen reinzuwaschen.


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Maria und Krzysztof sind nicht auf der Liste. Ein paar ihrer Bekannten schon. "Es ist so ein Wirbel darum entstanden, dass wir uns auch dafür interessiert haben", erzählt Krzysztof. Gemeinsam mit seiner Frau ist er ins IPN gekommen, um Informationen zu erhalten. Die Veröffentlichung der Liste hält er allerdings "für eine Schweinerei": "Es sind Dutzende von Nowaks aufgelistet, aber der, der seine Bekannten bespitzelt und verraten hat, ist vielleicht gar nicht dabei."

Maria ist anderer Meinung: Sie kann der Veröffentlichung auch positive Seiten abgewinnen. Nach 50 Jahren hat sie dies dazu bewogen, mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Im Jahr 1955, als sie noch studierte, hat der Staatssicherheitsdienst sie zur Mitarbeit überreden wollen. Sie lehnte ab - und bekam während ihrer ganzen Studienzeit keinen Job mehr. "Ich will wissen, wer von meinen Bekannten mich damals denunziert und den Geheimdienst auf mich aufmerksam gemacht hat", sagt Maria.

Status eines Geschädigten

Seit 2000 können sich Polinnen und Polen beim Institut der Nationalen Erinnerung um den Status eines Geschädigten bemühen. Wer tatsächlich Opfer von Bespitzelung war, wegen oppositioneller Tätigkeit in Haft saß oder bedroht und schikaniert wurde, erhält Einsicht in seine Akten und kann etwa erfahren, wer ihn denunziert hat. Wer mit dem Staatssicherheitsdienst zusammen gearbeitet hat, erhält seine Akte nicht. Groß war der Aufruhr, als sich herausstellte, dass ein ehemals oppositioneller Journalist auch Informant war oder dass die Sprecherin der ersten nichtkommunistischen Regierung unter Tadeusz Mazowiecki der Mitarbeit mit den früheren Behörden beschuldigt wurde.

Eine vollständige "Lustration", eine gründliche Durchleuchtung aller Behörden und Institutionen auf ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheitsdienste, fand in Polen noch nicht statt. Es war ein Kompromiss, den Mazowiecki mit den Teilnehmern des Runden Tisches 1989 schloss und der den Wiederaufbau eines demokratischen Systems ermöglichen sollte. Ein "dicker Strich" sollte unter das alte System gezogen werden. Doch die Diskussion um die nicht aufgearbeitete jüngste Vergangenheit des Landes flammt mit Heftigkeit wieder auf. Und in ihrem Mittelpunkt stehen nicht nur Politiker der linken Regierungspartei SLD.

Flut an Anträgen

Als Bronis³aw Wildstein, mittlerweile entlassener Redakteur der Tageszeitung "Rzeczpospolita", eine bis zu 240.000 Personen umfassende Liste aus den Beständen des IPN zugänglich machte, trat er eine Lawine los. Die Homepage, auf die die Liste gestellt wurde, überbietet an Popularität alle pornografischen Seiten. Sie liest sich wie ein Telefonbuch: Name, Vorname, Aktennummer. Es wird nicht unterschieden zwischen Spitzeln und Opfern, nicht zwischen bezahlten Mitarbeitern und jenen, die unter Folter zur Kooperation gezwungen wurden.

Die IPN-Filialen werden von hunderten Menschen täglich besucht: Die meisten, die sich auf der Liste gefunden haben, wollen nicht als Spitzel gelten. Bemühten sich seit 2000 bis Jänner dieses Jahres 18.542 Menschen um den Status eines Geschädigten, waren es in den ersten Februartagen, nach Veröffentlichung der Liste, allein in Warschau 2.100.

"Nie mit jemandem geredet"

Die Filiale des IPN im westpolnischen Posen (Poznañ) hat zwölf Mitarbeiter, die sich mit den Formularen befassen. Sie kommen mit der Arbeit kaum nach. Wurden im Vorjahr 145 Anträge gestellt, sind es nun rund 60 täglich.

Die 50-jährige Anna ist hergekommen, weil sie ihren Namen auf der Liste gefunden hat. "Ich weiß nicht warum, ich habe mit dem nichts zu tun, niemals habe ich mit jemandem geredet", ereifert sie sich. Nun hat sie einen Antrag auf Status einer Geschädigten gestellt: Sie will ihren Bekannten und Verwandten beweisen, dass sie keine Mitarbeiterin des Staatssicherheitsdienstes war. Auch wenn es sich um eine zufällige Namensgleichheit handeln kann - die Mitarbeiter des IPN weisen immer wieder darauf hin - kann sich der Nachbar denken: "Die hat also auch bespitzelt und denunziert." "Lustration ist notwendig", meint Anna: "Aber die Kosten dafür tragen jetzt Unschuldige."

Mi³osz Michalski vom IPN kann der Situation auch Gutes abgewinnen. "Eine Lustration hätte schon Anfang der 90er-Jahre erfolgen sollen", ist er überzeugt. Doch jede Regierung hätte das blockiert. "Die Veröffentlichung der Liste war ein Impuls für eine Debatte, die notwendig ist", erklärt Michalski. Die Menschen hätten zwar schon früher Einsicht in ihre Akten nehmen können, doch jetzt erst nutzen sie diese Möglichkeit scharenweise. Welche gesellschaftlichen Auswirkungen dies alles haben wird, könne erst in einigen Jahren beurteilt werden, findet Michalski.

Doch es sind nicht nur Leute, die ihren Namen in den Schmutz gezogen sehen, die zum IPN kommen. "Mich rufen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes an", erzählt Michalski. "Sie fragen, wo sie sich auf die Liste einschreiben können." Immerhin arbeiteten sie jahrelang für den Geheimdienst - und ihr Name sei nicht zu finden.