Wenn es ums Kindeswohl geht, ist nüchterne Mathematik das falsche Mittel.
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In vielen Staaten Europas und den USA gibt es seit einigen Jahren einen besonderen Trend im Familienrecht: Kinder sollen nach der Trennung der Eltern "gerecht aufgeteilt" werden. "Gerecht" bedeutet zumeist: "arithmetisch gerecht" - sie sollen also zu gleichen Teilen (50:50) bei beiden Elternteilen leben. Trennungskinder haben dann statt eines Zuhauses zwei. Die Doppelresidenz, die vorsieht, dass Kinder eine Woche bei Papa und eine bei Mama sind, ist in diesem Zusammenhang fast zum Kampfbegriff geworden.
Schwierig wird es, wenn dieses arithmetische Modell nicht einvernehmlich festgelegt werden kann, weil eine Seite - in vielen Fällen die Mutter - auf der Bremse steht. Im gängigen Familienrecht wird dann häufig Druck aufgebaut, sich diesem dennoch anzunähern. Gutachten und Berichte werden erstellt, nicht selten wird in Gesprächen Khalil Gibran zitiert: "Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber."
Arithmetisch sauber
Als Bild wird Müttern und Vätern das Urteil König Salomons vor Augen geführt: "Wollt ihr euer Kind in der Mitte zerteilen?" Diese Frage, direkt ausgesprochen oder nicht, schwingt hier mit. Wollt ihr das nicht, so lasst los! Das Loslassen versteht sich hauptsächlich als Appell an die Mutter: Sie soll loslassen, um das Kind "gerecht" auf zwei Wohnsitze aufteilen zu können. War es das, was Salomon wollte?
Mathematik und ein Schuss Esoterik sind es also, die zu einer guten Lösung in Kontaktrechtsverfahren führen sollen. Dies entspricht unserem Zeitgeist. "Unser Leben ist darauf gegründet, möglichst alles auszurechnen", sagt die Wiener Konfliktforscherin und Psychoanalytikerin Susanne Jalka und fügt hinzu: "Es ist unglaublich, wie sehr wir uns in allen Bereichen unseres Lebens auf Zahlen stützen. Dabei merken wir gar nicht, dass wir keine Rechenmaschinen sind, sondern lebendige Menschen mit Stärken und Schwächen und allem, was dazu gehört." Passend zum ökonomisch ausgerichteten Denken favorisieren die meisten der für die Familiengerichte tätigen Stellen systemische und (verhaltens)pädagogische Ansätze. Diese lassen leider allzu oft den Blick auf den Längsschnitt vermissen.
Eine der wichtigsten Begutachtungsinstitutionen, die Gerichten im Rahmen der jüngsten Gesetzesänderung im Jahr 2013 als Hilfestellung zugeschaltet wurde, die sogenannte Familiengerichtshilfe, wird seit ihrer Gründung von einer Systemischen Therapeutin geleitet. Die dort tätigen Berufsgruppen - Bildungswissenschafterinnen, Sozialarbeiterinnen und nur zu einem Teil Psychologinnen - beziehen sich in ihren Berichten allesamt auf pädagogische Literatur, die wiederum zu 100 Prozent dem Diktum der Umsetzung eines "modernen Familienrechts" folgt - und modern ist die Doppelresidenz.
Kinder als Pendler
Es ist dieses Modell, das letztlich am besten in unsere flexible, neoliberale Gesellschaft passt. "Kinder, die so aufwachsen, lernen früh mobil zu sein", sagt etwa der Universitätspsychologe Harald Werneck, der sich die Erforschung der Doppelresidenz auf die Fahnen geheftet hat. Wer heute noch den Begriff "Heim erster Ordnung" verwendet, gilt rasch als altmodisch oder wird verunglimpft, die Bedeutung der Väter nicht zu sehen. "Kinder brauchen einen Ort, an dem sich um alles gekümmert wird", sagt aber die langjährige Rechtspsychologin Rotraut Erhard und fügt hinzu: "Ja, Kinder brauchen auch Kontakt zu beiden Eltern. Aber nicht unbedingt gleich viel." Sie ist nur eine von vielen - zugegebenermaßen leise gewordenen - Stimmen, die an die Wichtigkeit von Verwurzelung erinnern.
Waren bis in die 2000er Jahren Männer tatsächlich benachteiligt durch ein einseitiges Familienrecht, das ihnen nicht gestattete, die gemeinsame Obsorge gegen den Willen der Kindesmutter zu beantragen, scheint das Pendel nun in die andere Richtung auszuschlagen. Männer sollen, ja müssen häufig genau die Hälfte der Zeit bekommen. Das Diktum "Kinder brauchen beide Eltern" verschluckt jegliche Form von kritischer Reflexion, was das im Alltag konkret bedeutet. So werden schon sehr junge Kinder zu Pendlern - ungeachtet, ob dies ihrem Naturell entspricht oder nicht.
Kein Mensch wird sich gegen ein Doppelresidenzmodell aussprechen, wenn es im Einvernehmen gelebt wird und - das ist der zentrale Punkt - dem Kind guttut. Die Doppelresidenz kann nicht funktionieren, wenn Kinder offensichtlich damit überfordert sind, wenn Gewalt im Spiel ist oder es nicht den Funken einer Gesprächsbasis zwischen den Eltern gibt. Wird die Doppelresidenz von einer Person einseitig vor Gericht durchgeboxt, so ist dies regelrecht paradox. Wie kann man zwangsweise ein Modell etablieren, das die höchste Kooperationsbereitschaft überhaupt erfordert? Dazu die Psychologin und gerichtlich beeidete Sachverständige Sandra Szynkariuk-Stöckl: "Man müsste eigentlich schon das hinterfragen: dass sich hier eine Person mit solcher Wucht über die Meinung eines anderen hinwegsetzen will."
Das Ziel einer ehrlichen Auseinandersetzung von Müttern und Väter - und allen rund ums Familienrecht tätigen Personen - sollte sein, den scheinbaren "Modernisierungsschub" kritisch zu hinterfragen. Es geht um Mut zur Differenzierung und ein Anerkennen von Komplexität. Dafür braucht es die Rückbesinnung auf Ansätze, die im Familienrecht verloren zu gehen drohen: tiefenpsychologische und humanistische Betrachtungen zu dem, was Kindeswohl auch sein könnte und das Abrücken von schädlichen und vereinfachenden Narrativen.
Verein "FEMA - Feministische Alleinerziehende":
https://verein-fema.at/