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War es die falsche Entscheidung?

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Sechs Jahre nach dem Votum fragen immer mehr Briten, wie viel Schaden durch Johnsons harten Brexit entstanden ist.


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Eigentlich hatte sich Iain Martin immer für Großbritanniens Abkehr von der EU starkgemacht. Jetzt aber fechten den prominenten konservativen Kommentator in London plötzlich Zweifel an. "Wer die Schattenseiten des Brexit für den Handel mit der EU leugnet", meint Martin, "der verschließt die Augen vor der Realität." "So schmerzlich das auch ist - wir müssen über Brexit reden", hat Martin jüngst in der Tory-freundlichen "Times" verkündet.

Das sieht mittlerweile auch sein Kollege Jeremy Warner, ein Brexiteer vom rechtsnationalen "Daily Telegraph", so. Brexit habe ja eigentlich "einen Neubeginn markieren" sollen, lamentiert Warner. "Aber indem er den Handel mit Europa schwieriger und teurer gemacht hat, hat er bislang nur die Probleme unseres Landes vermehrt."

Zweifellos, meint auch der Tory-Abgeordnete und frühere Staatssekretär Tobias Ellwood, der den Verteidigungsausschuss im Unterhaus leitet, sei dies "nicht der Brexit, den sich die meisten Leute seinerzeit vorgestellt hatten". Eine jetzt veröffentlichte Umfrage des Ipsos-Instituts hat ergeben, dass mittlerweile 45 Prozent aller Briten finden, der Brexit habe ihr Leben "verschlechtert". Vor einem Jahr fanden das nur 30 Prozent. Selbst unter denen, die 2016 für den Brexit stimmten, ist der Anteil derer, die jetzt über die Folgen klagen, deutlich gestiegen - von 10 auf 22 Prozent.

"Nur hier rührt sich nichts"

Wirtschaftsexperten und Finanzfachleute überrascht das nicht. Sie haben dieser Tage begonnen, Bilanz zu ziehen und den Schaden, den Covid angerichtet hat, von den Folgen des harten Brexit zu trennen, die sich neuerdings immer klarer in ihrem Land abzeichnen. "Überall sonst erholt sich der Handel nach der Pandemie jetzt wieder", sagt es etwa Adam Posen, Chef des Peterson Instituts für Internationale Ökonomie in London. "Nur hier im Vereinigten Königreich rührt sich nichts." Sinkende Importe im Geschäft mit der EU, bei gleichzeitigem Niedergang der eigenen Exporte, werden als zentrale Zeichen dieser Schwäche betrachtet. Bürokratische Zwänge, Grenzkontrollen und zusätzliche Mehrwertsteuer behindern den Handel über den Ärmelkanal. Und neuer Handel mit ferner gelegenen Weltregionen haben diese Verluste nicht ausgleichen können.

Auch haben sich Investitionen in britische Unternehmen merklich abgeschwächt. Dass "die Ungewissheit, die der Brexit geschaffen hat", Investoren abschrecke, hatte schon 2020 der scheidende Nationalbank-Gouverneur Mark Carney vermeldet. Dies ist auch heute noch Überzeugung der Bank. Das britische Amt für gute Haushaltsführung hält an seiner Analyse von 2020 fest, der zufolge das Bruttoinlandsprodukt auf Dauer um 4 Prozent niedriger liegen wird, als wenn man in der EU geblieben wäre. Im kommenden Jahr, hat die OECD just prophezeit, werde Großbritannien das geringste Wirtschaftswachstum unter den Industriestaaten verzeichnen, von Russland abgesehen.

Nach Ansicht der Regierung beweist das freilich gar nichts. "Die Chancen, die uns der Brexit beschert, werden für das Vereinigte Königreich ein Segen sein - auf lange Sicht gesehen", gelobt man in No 10 Downing Street. Man müsse nur Geduld haben, dann regle sich das schon.

Klagen überall

Das bezweifeln jedoch viele Briten inzwischen, nachdem keines der feierlichen Versprechen eines neuen Wirtschaftswunders post Brexit sich erfüllt hat. Stattdessen steigen die Lebenshaltungskosten auf der Insel steiler als drüben "in Europa", gehen die Preise für Waren aus der EU schneller in die Höhe als für Waren aus anderen Teilen der Welt. Britische Farmer und Fischer finden sich wegen des Brexits schon jetzt häufig in existenziellen Krisen. Gastwirte bekommen, seit ihre EU-Belegschaft durch den Brexit "vertrieben" wurde, kein Personal mehr, um den Betrieb am Laufen zu halten. Universitäten klagen, dass ihnen die Experten in Scharen davonlaufen. Forschungsprojekte haben den EU-Rückhalt verloren. Krankenhäuser können keine Pfleger finden, ausgerechnet in dieser angespannten Zeit.

Ellwood, den Verteidigungs-Experten, hat das ermutigt, sich mit einem im Regierungslager bisher undenkbaren Vorschlag an die Öffentlichkeit zu wagen. Großbritannien solle, um seine schockierend hohen Lebenshaltungskosten und die wachsende Armut im Lande zu reduzieren, besser wieder dem EU-Binnenmarkt beitreten, findet Ellwood: "Ein Appetit" dafür sei zweifellos da.

Tatsächlich würde eine Rückkehr der Briten in den Binnenmarkt alle möglichen Probleme gleichzeitig lösen. Nicht nur würde sie den Warenverkehr am Kanal, den ganzen Handel mit der EU, erneut in Schwung bringen. Auch der Streit mit der EU um Nordirland wäre hinfällig, auf einen Schlag. Eine Rückkehr zum Binnenmarkt ist aber für die meisten Tories nichts, worüber sich reden ließe. Jede Wiederannäherung an die EU ist für sie tabu. Schon beim Gedanken an erneute Personenfreizügigkeit, wie sie mit dem Binnenmarkt verbunden wäre, befällt Brexit-Hardliner nacktes Entsetzen.

Entsprechend wütend ist die Reaktion auf Elliots Idee ausgefallen. Einen solchen "Rückschritt", der praktisch ein Eingeständnis wäre, dass man mit dem harten Brexit die falsche Entscheidung getroffen habe, will sich niemand zumuten müssen in der Partei, nach den bitteren Kämpfen der Vergangenheit. Und für die Brexiteers ist ohnehin nicht das Konzept des Brexit schuld daran, dass die Sache wirklich nicht planmäßig läuft.

Sie geben die Schuld lieber denen, die das Konzept ihrer Ansicht nach nicht richtig umgesetzt oder seine Umsetzung behindert haben. Gemeint sind damit ganz offenbar widerspenstige Staatsbeamte, die Fortschritt blockieren würden; und die leidigen Europäer natürlich, die sich ja nur rächen wollen; und im eigenen Parlament die ewigen "Remainer", die hoffnungslosen Pro-Europäer, die sich nicht damit abfinden wollen, dass sie die Schlacht verloren haben, dass der Brexit "vollzogen" worden ist.

Mit voller Kraft retour?

Einige Brexiteers schieben die Schuld sogar schon ihrem eigenen "nutzlosen" Partei- und Regierungschef zu. Beobachter der Gegenseite, wie Nick Cohen vom linksliberalen "Observer", deuten solche Attacken als typisch für Ideologen, die "keine Verantwortung" für ihre fehlgeschlagenen Programme übernehmen wollten. Jetzt, da sich die vormals verspotteten Warnungen vor den Brexit-Folgen bestätigten, bleibe "den Führern der Brexit-Rechten, um ihre Bewegung zusammenzuhalten, nur noch der Vorwurf, betrogen und getäuscht worden zu sein".

Einem Tory-Veteranen kann es nicht schnell genug gehen mit einem Ende der "Lügengespinste". Für ihn sei von Anfang an klar gewesen, meint der frühere konservative Vize-Premier Lord Michael Heseltine, dass es "nie eine positive Seite geben konnte im Ausgleich für den Verlust des Marktes, der uns am nächsten liegt". Jetzt müsse "der Brexit wieder rückgängig gemacht werden", fordert Heseltine ohne Umschweife. "Und je schneller das geschieht, desto besser für uns."