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War Kemal Atatürk ein normaler Mensch?

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Der umstrittene Film "Mustafa" kratzt an einem türkischen Mythos. | Ankara. Die Runde war ungewöhnlich still. Die vier Türken um die 30, die ansonsten ohne Unterlass heftig gestikulierend reden, Witze reißen und lachen, saßen in Gedanken versunken vor ihren Pide, einer Art Pizza auf Türkisch. Soeben hatten sie in einem Kino in Ankara "Mustafa" gesehen, einen halbdokumentarischen Film über Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk. Diesem war auch das Schweigen gewidmet.


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"Atatürk ist für unser Leben unheimlich wichtig", erklärte später Oguz, der knapp 40 Jahre nach dem Tod des ersten türkischen Präsidenten (1938) auf die Welt gekommen ist. "Er ist wie eine genetische Erinnerung, tief in uns drinnen." Den Einwand, dass dies eher mit Erziehung zusammenhängen könnte, lässt Oguz nicht gelten. Ja, es stimme, dass Kinder schon im Kindergarten Lieder auf Atatürk singen und vom ersten Schultag an einige seiner Aussprüche lernen, doch es gehe um mehr. Für Oguz ist Atatürk einer der Gründe, in der Türkei bleiben zu wollen. "Dieser Mann hat in dem Land, das so träge erscheint, so viel bewegt, dass er mir die Hoffnung gibt, auch ich könnte etwas verändern."

Personenkult

Der Personenkult um Atatürk lässt sich mit nichts in Westeuropa vergleichen. Das Bild des Mannes prangt auf allen Geldscheinen in der Türkei, ein Porträt von ihm hängt in allen öffentlichen Gebäuden, eine Statue ist in jeder Stadt zu finden. Er ist wie ein Tabu, das mit Ehrfurcht zu behandeln ist. Eine Beleidigung seines Namens verstößt gegen die Verfassung. Er spielt eine Rolle in politischen Debatten wie der Diskussion um eine Aufhebung des Kopftuch-Verbots an Universitäten. Frauen mit Kopftüchern an den Hochschulen wären ein Verrat an den Werten Atatürks und damit der Republik, wettern Kemalisten.

Verrat werfen einige nun auch Can Dündar vor. Der Journalist und Filmemacher wollte Atatürk nämlich "von seiner menschlichen Seite" zeigen. "Mustafa" zeichnet also nicht nur die Jugend und den Werdegang des Anführers nach, seine militärischen Erfolge und Überlegungen zum Aufbau eines demokratischen Staates. Zu sehen sind ebenso - wenn auch weit seltener - Szenen des Zweifels und Andeutungen von Einsamkeit. Angespielt wird auch darauf, dass Atatürk so manche Frau, die ihn geliebt hat, ins Unglück gestürzt hat. Geraucht hat der Mann auch, und das nicht so wenig. Sogar ein Raki-Glas wird einmal ins Bild gerückt. Immerhin soll Atatürk an Leberzirrhose gestorben sein.

"Schädliche Bilder"

Diese Anspielungen reichten, um in der Türkei eine hitzige Debatte auszulösen. Während die einen begeistert davon sind, dass das Bild "ihres Anführers" nun durch ein paar persönliche Aspekte angereichert ist, setzen andere eine mögliche Demystifizierung mit der Zersetzung des Staates gleich. Atatürks Schwächen zeigen - darf man denn das?, fragen sie. Ihre Antwort lautet: Nein.

Deniz Baykal, Vorsitzender der linksgerichteten, aber nationalistischen oppositionellen Partei CHP, gab zu verstehen, er verachte den Film. Ein Kolumnist der Zeitung "Vatan" rief zu einer Gegenkampagne auf: Die Menschen sollten nicht ins Kino gehen und vor allem ihren Kinder nicht erlauben, diese "schädlichen Bilder" zu sehen. Schon im Vorfeld hat der Mobilfunkbetreiber Turkcell seinen Rückzug als Sponsor angetreten. Ein Mitglied des Vereins zur Wahrung des Gedankenguts von Atatürk hat vor Gericht eine Beschwerde gegen Regisseur Can Dündar eingebracht.

Menschenrechtsorganisationen wiederum warnen vor Fanatismus. Wenn ein Film, der nicht einmal Atatürk-kritisch angelegt ist - Can Dündar ist erklärter Anhänger der Reformen Atatürks -, derart kritisiert wird, zeige dies, wie weit die Türkei noch von einer vollständigen Demokratie und echter Meinungsfreiheit entfernt sei.

Dem Publikumserfolg von "Mustafa" tut dies alles keinen Abbruch. Fast eine Million Menschen haben den Film in den ersten zwei Wochen seit seinem Anlaufen gesehen.