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"Wäre fast krankhafte Bedingung"

Von WZ-Korrespondent Igor Fiatti

Europaarchiv

Boris Tadic im Interview: Karadzic soll sich stellen. | Europäische Integration und Lösung des Kosovo-Problems als Prioritäten. | "Wiener Zeitung":Nach der Festnahme des kroatischen Ex-Generals Ante Gotovina wartet die internationale Gemeinschaft auf die Auslieferung der ehemaligen Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Fühlen Sie sich unter Druck?


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Boris Tadic: Nach Gotovinas Verhaftung gelten wir als das einzige Land, das nicht mit dem Tribunal in Den Haag kooperiert. Das ist ein großes Problem für Serbien, und wir wollen es mit aller Kraft lösen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir unsere Ziele erreichen. Wir brauchen aber auch Hilfe.

Was geschieht, wenn Karadzic und Mladic nicht verhaftet werden?

Das wäre eine Katastrophe. Sie müssen nach Den Haag gehen. Das ist ein vitales Interesse Serbiens. Ich fordere Karadzic und Mladic nochmals auf, sich zu stellen. Sie würden damit einen Beitrag zur Zukunft des Staats und der Nation leisten.

Welche Lösung schlägt Belgrad für das Kosovo vor?

Belgrad will die Provinz nicht selbst regieren. Wir respektieren das legitime Recht der Albaner auf Autonomie. Wir respektieren aber auch das Recht der Serben in Kosovo, in einer Union mit Serbien zu leben. Es geht dabei vor allem um Kompetenzen in der Sicherheit, der Justiz, Gesundheit und Bildung. Die institutionellen Bindungen zwischen Belgrad und dieser serbischen Entität in Kosovo sind die Voraussetzung für das Überleben der Serben in der Provinz. Das ist der serbische Vorschlag.

Der albanische Vorschlag sieht anders aus. . .

Er sieht die völlige Unabhängigkeit der Provinz vor. Diese Lösung ist für uns nicht akzeptabel. Ich fürchte, dass eine solche Unabhängigkeit einen Präzedenzfall bilden würde, der nicht nur Serbien-Montenegro destabilisieren könnte, sondern die gesamte Region. Ich bin gegen die Destabilisierung anderer Staaten.

Die Serben in Kosovo leben in Ghettos. Die Albaner sind de facto bereits unabhängig. Ist Belgrad bereit, diese Tatsache anzuerkennen, um schneller der EU beitreten zu können?

Serbien ist ein Teil Europas. Der Verlust eines Teils seines Staatsgebiets kann nicht die Bedingung für den Beitritt eines demokratischen Landes zur Europäischen Union sein. Das wäre eine seltsame und fast krankhafte Bedingung. Serbien wird seine Reformen fortsetzen und auf jeden Fall EU-Mitglied werden. Seine Voraussetzungen für einen Beitritt sind vielleicht sogar besser als bei anderen Ländern des Balkans. Aber ein Beitritt zur EU kann für Serbien nicht den Verlust des Kosovo kompensieren.

Montenegro wird im April über die Unabhängigkeit von Belgrad abstimmen. Was erwarten Sie vom Referendum?

Ich erwarte, dass die Bürger Montenegros ihre Meinung über die Union mit Serbien sagen. Aber die Entscheidung muss auf eine absolute Mehrheit gestützt sein. Wenn sich eine Mehrheit der Bevölkerung für die eine oder andere Lösung ausspricht, werde ich als erster entweder die Unabhängigkeit Montenegros oder die Erhaltung des Bundesstaats anerkennen. Aus praktischen Gründen bin ich persönlich für die Erhaltung des Bundesstaats. Aber die Entscheidung steht nur den Montenegrinern zu.

Sind die neunziger Jahre ein Jahrzehnt der Niederlagen für Serbien gewesen?

Ohne Zweifel. Wir haben eine militärische und auch eine wirtschaftliche Niederlage erlebt. Mein Volk hat Gebiete verlassen, in denen wir seit Jahrhunderten gelebt haben. Aus Kroatien sind 300.000 Serben geflüchtet, zwei Drittel der Serben haben Kosovo und Bosnien verlassen. Eine halbe Million gut ausgebildeter junger Menschen ist inzwischen in den Westen auswandert. Das ist eine große Niederlage.

Kann Serbien daraus auch etwas lernen?

Ja. Im letzen Jahrhundert hat Serbien in vielen Kriegen gekämpft. In beiden Weltkriegen waren wir Alliierte der westlichen Länder und haben dabei riesige Verluste gehabt. Am Ende des Jahrhunderts aber haben wir gegen unsere ehemaligen Alliierten gekämpft. Das ist widernatürlich. Solange ich Präsident bin, werde ich nicht erlauben, dass sich so etwas wiederholt. Und ich bin sicher, dass auch meine Nachfolger das nicht erlauben werden. Wir wollen wieder die Alliierten der westlichen Länder sein.