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Ein Jahr nach Beginn der Proteste in Belarus ist die Opposition mundtot gemacht. Viele Weißrussen wandern aus.
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Für Weißrusslands Staatschef Alexander Lukaschenko hätte es ein ruhiger Sommer werden sollen. Der belarussische Präsident, der sein Land schon mehr als ein Vierteljahrhundert lang diktatorisch regierte, beabsichtigte, sich im August vergangenen Jahres wiederwählen zu lassen. Im autoritären System von Belarus ist das normalerweise kein großes Problem: Schließlich kontrolliert der Präsident de facto die Wahlkommission - und damit auch das Wahlergebnis. Bei den bisherigen Präsidentenwahlen kam Lukaschenko stets verlässlich auf jene rund 80 Prozent, die er bei der Stichwahl 1994 erreichte - damals noch auf demokratischem Weg.
Als ihm jedoch auch im Vorjahr wieder knapp über 80 Prozent zugesprochen wurden, explodierte der Druckkochtopf Belarus. Die breiten Straßen und Plätze der Hauptstadt Minsk füllten sich rasch mit Menschen, die verbotene traditionelle weiß-rot-weiße Nationalfahne, lange Zeit als Erkennungszeichen der Opposition eher ein Minderheitenprogramm, wurde massentauglich. Nicht nur in der Hauptstadt, auch in der Provinz wurde protestiert. Selbst früher loyale Arbeiter in den Staatsbetrieben traten in den Streik. Die Angst vor Repression, in Lukaschenkos System ein stetes Damoklesschwert, schien während des farbenfrohen, kreativen Protests ein Phänomen von gestern zu sein. Es wirkte, als würde Belarus die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 in Mitteleuropa nachholen.
Doch der zutiefst sowjetisch geprägte Machtpolitiker Lukaschenko hat mit den orientierungslosen KP-Kadern zur Zeit der Perestrojka nicht viel gemein. Statt auf ein wohldosiertes, taktisches Nachgeben setzte der Staatschef auf brutale Repression. Demonstrationen ließ er mit aller Härte niederknüppeln, Oppositionelle einsperren oder außer Landes treiben - wie seine Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja. Die Zwangsmaßnahmen, die früher einen kleinen Kreis von Oppositionellen betrafen, ließ er auf die gesamte Protestbewegung ausweiten. Die "Soft-Diktatur" Belarus, in der beim Bier auch gerne über den Staatschef gespottet werden konnte, zeigte ihr wahres Gesicht.
Keine großen Aktionen mehr
Die Folgen seines Handelns scheinen Lukaschenko nicht zu kümmern - schließlich geht es um seinen Präsidentensessel. So geriet in Belarus im vergangenen Jahr etwa auch die IT-Industrie massiv unter politischen Druck. Der Umstand, dass sich viele junge Programmierer an den Protesten beteiligten, führte zu Razzien in jenen Unternehmen, die bis dato von staatlichen Aufpassern verschont blieben. Mittlerweile wandern viele IT-Experten und auch Firmen ins nahegelegene Ausland - nach Litauen, Polen oder die Ukraine - ab. Belarus ist dabei, ein Land ohne Zukunft zu werden.
Auch die Tür nach Westen hat sich Lukaschenko wohl endgültig zugeschlagen. Weißrusslands Präsident, der in der Ukraine-Krise noch als Vermittler zwischen Kiew und Moskau punkten konnte, gilt heute in Brüssel und Washington mehr denn je als Paria: Die Entführung des Regimekritikers Roman Protassewitsch, die mögliche Ermordung des Dissidenten Witali Schischow kürzlich in Kiew und die Beinah-Entführung der weißrussischen Sprinterin Kristina Timanowskaja von den Olympischen Spielen in Tokio, weil diese eine Entscheidung weißrussischer Sportfunktionäre kritisiert hatte, dokumentieren das Ausmaß an Repression. Dass Lukaschenko neulich Migranten aus dem islamischen Raum offenbar gezielt Richtung EU-Grenze in Marsch schickt, um die Union, die Sanktionen gegen Belarus verhängte, gefügig zu stimmen, passt in jenes Bild, das man sich in Europa vom weißrussischen Diktator gemacht hat. Das Argument, man müsse verhindern, dass Belarus Richtung Russland kippt, verfängt in Brüssel nicht mehr - zumal Lukaschenko heute ohnehin bereits ganz vom Kreml abhängig ist. Und die USA verhängten am Montag neue Sanktionen gegen Belarus, deren Ziel auch das Olympische Komitee des Landes ist.
Bis jetzt hat Lukaschenko mit seiner Taktik der Repression Erfolg gehabt: Zum Jahrestag der Wahl am Montag schloss Oppositionsführerin Tichanowskaja neue größere Aktionen gegen den Autokraten aus. Der Preis dafür wäre zu hoch, sagte sie der Agentur dpa. "Es hat schon genug Opfer gegeben, zu viele zerstörte Leben." Jeder könne derzeit nicht nur für 15 Tage, sondern für Jahre ins Gefängnis kommen.
Lukaschenko unterschätzt
Mobilisiert werden müsse aber weiterhin - abseits der Straße, so Tichanowskaja, etwa mittels der Verteilung von Aufklebern. Das hohe Ausmaß an Gewalt, das Lukaschenko anwenden lässt, deutet sie nicht als Stärke, sondern als Schwäche des Regimes. Die Menschen seien in den vergangenen 12 Monaten politischer und auch stärker geworden. Den Willen der weißrussischen Führung, an der Macht zu bleiben, hat man aber offenbar unterschätzt: "Wir waren auf eine solche Brutalität des Regimes nicht vorbereitet", sagte Tichanowskaja.