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Warmes Herz trifft kühlen Kopf

Von Uschi Schleich

Reflexionen

Warum wir bei Entscheidungen gar nicht anders können, als auf unseren Bauch zu hören. Oder über die Kunst zu wissen, was man nicht wissen muss.


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Warum nur wirkt Mr. Spock vom legendären Raumschiff Enterprise so sympathisch? Wegen seines betäubenden Händedrucks? Wegen seines trockenen Humors? Spock lächelt nicht, er weint nicht und die einzige Gefühlsregung, die er hin und wieder zeigt, ist seine hochgezogene rechte Augenbraue, wenn er etwas "faszinierend" findet. Ansonsten fühlt sich der Halbvulkanier stets der Ratio verpflichtet. Intuition? Unlogisch. Emotionen? Irrationale Regungen der unterentwickelten Erdenbewohner. Mr. Spock ist für seine messerscharfen Analysen bekannt, Entscheidungen fällt er nie mit Gefühl, sondern immer nur nach den Gesetzen der Logik.

Mag sein, dass Vulkanier ihre Entscheidungen auf rein rationaler Basis treffen. Mag sein, dass sie damit richtig liegen. Im Film wohlgemerkt. Tatsache ist: Wir Menschen können das nicht. Im Gegenteil. Ohne Gefühle wären wir nicht einmal in der Lage, zwischen Milch- und Bitterschokolade zu wählen oder uns ein Auto anzuschaffen, geschweige denn, den richtigen Partner fürs Leben zu finden. Sagen Hirnforscher.

Intelligente Gefühle. Wie wichtig sind also Gefühle für unseren Entscheidungsprozess? "Emotionen sind kein Luxus. Ohne Emotionen würden wir ziemlich dumm dastehen", weiß der US-amerikanische Neurologe Antonio Damasio, der als einer der ersten der Intelligenz der Gefühle auf die Spur kam. Bei seiner Arbeit mit hirnverletzten Patienten erkannte Damasio, dass ein Mangel an Gefühlen zu irrationalem Verhalten, zu falschen Reaktionen und unsinnigen Entscheidungen führen kann. Auch Gerd Gigerenzer, einer der renommiertesten Entscheidungsforscher und Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, hat in zahlreichen Experimenten bestätigt gefunden: In vielen Situationen fährt man mit dem Bauchgefühl besser als mit langen Überlegungen.

So wie jener Drogenfahnder, der sich am Flughafen von Los Angeles in kurzen Hosen, Baseballkappe und Poloshirt unter die Touristen mischte. Als sich sein Blick plötzlich mit dem einer unauffälligen Frau im Businesskostüm kreuzte, alarmierte der Fahnder sofort seine Kollegen. Die Businesslady entpuppte sich als Geldkurier der Drogenmafia, in ihrem Koffer lagen Banknoten im Wert von 100.000 Dollar.

Doch warum war sich der Fahnder bei seiner Entscheidung so sicher? Er kannte die Frau nicht und hatte auch sonst keine Anhaltspunkte dafür, dass sie verdächtig wäre. Doch die Frau hatte in ihrer Angst, entdeckt zu werden, nach einem wie ihm Ausschau gehalten. Genau das hatte er intuitiv in dem Sekundenbruchteil wahrgenommen, als sich ihre Blicke begegneten. Und auf dieser Grundlage die richtige Entscheidung getroffen.

Auf den Bauch hören. Das Bauchgefühl leistet auch wertvolle Hilfe, wenn es darum geht, im Alltag Entscheidungen zu treffen. Und das sind täglich Hunderte. Wer im Riesensupermarkt unter 50 Sorten Olivenöl, zu Hause unter ebenso vielen Fernsehsendern oder im Elektrofachhandel unter hundert verschiedenen Digitalkameras das richtige Modell wählen muss, der kommt mit rationalen Überlegungen allein nie an sein Ziel. "Wenn wir wirklich warten würden, bis wir alle relevanten Fakten gesammelt haben, dann würden wir wahrscheinlich niemals eine Entscheidung treffen", bringt es der amerikanische Autor Milton Fisher in seinem Bestseller "Intuition. Das Geheimnis, in jeder Situation das Richtige zu tun" auf den Punkt. Das Abwägen von Pro und Contra gebe es daher nur in der Theorie, meint Miller: "In der Praxis fällen wir Entscheidungen auf der Grundlage von wenigen Fakten, weil wir gar nicht alle bekommen können."

Für unzählige Bereiche des Alltags haben Entscheidungsforscher gezeigt, dass mehr Analyse nicht unbedingt zu einer besseren Entscheidung führt. Oft ist unser Bauchgefühl dem Verstand sogar weit überlegen. Und verhilft uns zudem zu einer viel schnelleren Urteilsfindung. Entscheidungsforscher Gigerenzer fasst das in wenigen Worten sehr provokativ zusammen: "Es liegt Weisheit im Nichtwissen."

Ohne Unterbewusstsein geht nichts. Wie kann das sein? Hirnforscher schätzen, dass das menschliche Bewusstsein ungefähr 40 Informationseinheiten (Bits) pro Sekunde bewältigen kann. Das Unbewusste hingegen wird parallel dazu mit 15 bis 20 Millionen (!) von Bits fertig. Blitzschnell bewertet und sortiert es die aufgenommenen Informationen. Doch nur ein Bruchteil der in jeder Sekunde verarbeiteten Bits dringt in unser Bewusstsein. Der deutsche Neurobiologe Gerhard Roth schätzt, dass uns weniger als 0,1 Prozent dessen, was das Gehirn tut, aktuell auch wirklich bewusst wird. Der große Rest wird unbewusst erledigt.

Mithilfe unserer Gefühle können wir Entscheidungen nicht nur in einer Geschwindigkeit treffen, die wir mit unserem Verstand allein nie erreichen könnten. In vielen Fällen können wir sogar davon ausgehen, dass unser Bauch klüger ist als unser Verstand. Freude zum Beispiel teilt uns mit, dass alles in Ordnung ist. Negative Gefühle wie Angst können überlebenswichtig sein. Wenn wir Angst haben, handeln wir vorsichtiger und wir werden aufmerksamer gegenüber Gefahren. Würden wir beim Anblick verschimmelter Nahrungsmittel nicht intensiven Ekel empfinden, wären wir schon längst an einer Lebensmittelvergiftung gestorben.

Die Qual der Wahl. Doch um kluge Entscheidungen treffen zu können, reichen Gefühle nicht aus. Wir brauchen beides: einen kühlen Kopf und ein warmes Herz. Im Alltag reduzieren wir allerdings bereits unbewusst die Anzahl der Informationen, um überhaupt zu einem Ende beim rationellen Überlegen zu kommen. Entscheidungsforscher sprechen in diesem Zusammenhang von sogenannten Stoppregeln, die uns helfen, die Qual der Wahl zu überstehen und mit einer befriedigenden Entscheidung abzuschließen. Denn nur Computer sammeln endlos Informationen, bevor sie sich entscheiden, Menschen kürzen den Prozess ab.

Stoppregeln. Eine typische Stoppregel, die unsere Entscheidungsfindung beeinflusst, ist die sogenannte Bekanntheitsregel. Sich im Zweifel für das Vertraute zu entscheiden ist ein Weg, auf dem wir, mehr oder minder unbewusst, trotz beschränkter Informationen zu einem Entschluss kommen.

Ein anderes Beispiel für eine Stoppregel hat wohl jeder am eigenen Leib erfahren, der irgendwann in seinem Leben verliebt war: Auf der Suche nach einem Partner können wir uns natürlich endlos den einen oder anderen Kandidaten ansehen, analysieren und vergleichen. Der eine ist zu groß, der andere zu klein, der dritte zu muskulös, der vierte zu unsportlich und so weiter - Ende nie. Doch auf einmal ist sie plötzlich da, die Jahrtausende alte Stoppregel in Sachen Partnerwahl: die Liebe. Wer sich verliebt, hört urplötzlich auf, akribisch potentielle Liebhaber zu analysieren und schließt alle Alternativen zum Auserwählten mit schlafwandlerischer Sicherheit aus.

Auch hinter dem guten alten Sprichwort "Weniger ist oft mehr" steckt eigentlich eine Stoppregel. Sie bewahrt uns davor, endlos nach dem Besten zu suchen, anstatt sich schon mit dem Guten zufrieden zu geben. "Satisficing" nennen Entscheidungsforscher diese Strategie. Bei der Wohnungssuche zum Beispiel. Während wir uns auf die Suche nach der ultimativen Wohnung machen, weil uns die zuerst besichtigte nicht hundertprozentig zusagt, verpassen wir womöglich eine Gelegenheit, denn die eigentlich ganz gute Wohnung könnte inzwischen an einen anderen vergeben werden.

Kaufimpulse beeinflussen. Seit Psychologen und Hirnforscher realisiert haben, welch große Rolle Emotionen bei Entscheidungen spielen, zeigt auch die Werbewirtschaft reges Interesse an Stoppregeln, Bauchentscheidungen und Intuition. Immer mehr Marketingstrategen machen sich das Wissen um die Macht der Gefühle zunutze. Die Verführung durch Werbung scheint in eine neue Ära einzutreten. Neuromarketing nennt sich der Versuch, auf unsere Gefühle zuzugreifen, um über das Unbewusste den Kaufimpuls zu beeinflussen. Immer mehr Hersteller lassen inzwischen die Reaktion auf ihre Produkte in Kernspintomografen testen, in denen das Gehirn von Probanden durchleuchtet wird, während sie sich für ein Produkt entscheiden sollen.

Der deutsche Hirnforscher Christian Elger ist überzeugt, dass die Werbewirtschaft von Versuchen dieser Art profitieren kann. "Viele Fernseh- und Kinospots ließen sich wirksamer gestalten, wenn sie die Erkenntnisse der Hirnforschung berücksichtigen würden." Das klingt besorgniserregend. Mr. Spock hätte vielleicht gesagt: "Faszinierend." Doch Spock ist - wie wir alle wissen - eine Filmfigur.