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Der Querdenker übte Kritik an der Bevormundung des Einzelnen durch radikale Aufklärer. Er plädierte für die Freiheit des Gefühls.
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Ganzheitliche Lebensvorstellungen stehen derzeit hoch im Kurs. Dagegen gerät die Vernunft im gesellschaftlichen Ansehen vielfach ins Hintertreffen. Der Wirkungskreis der Emotionen verspricht reichhaltigere Erfahrung, tiefer lotende Erkenntnis und anhaltenderes Glück. Daraus wird häufig ein Gegensatz kons-truiert, der so nicht haltbar ist: Skepsis gegenüber der alleinseligmachenden Vernunft führt nicht zwangsläufig zu Irrationalismus und gegenaufklärerischen Konzepten. Abzulesen ist das an Johann Georg Hamann: Der Königsberger Sprachdenker und Geistesforscher, der vor 225 Jahren, am 21. Juni 1788, gestorben ist, war ein früher Warner vor Verstandeskälte und Vernunftterror.
Man nannte ihn den "Magus im Norden". Wie sein Zeitgenosse und Widerstreiter Immanuel Kant blieb er in seiner Geburtsstadt Königsberg sesshaft, der Universitäts- und Handelskapitale hoch im Nordosten Deutschlands, die zwar abseits der Zentren des kulturellen und geistigen Lebens gelegen, aber von "ewigem Oppositionsgeist" erfüllt war, wie ein preußischer König klagte. Von dort aus entfaltete Hamann seine Strahlkraft auf eine gärende Generation junger Wissbegieriger, deren Bewegung in der deutschen Literatur "Sturm und Drang" heißt, benannt nach dem Titel eines Dramas von Goethes Jugendfreund Friedrich Maximilian Klinger.
Hellster Kopf der Zeit
Johann Georg Hamann war der Lehrer Herders und damit auch Goethes. Als "hellsten Kopf seiner Zeit" bezeichnete ihn Goethe, der die Leitgedanken des zeitlebens von ihm Bewunderten so zusammenfasste: "Das Prinzip, auf welches die sämtlichen Äußerungen Hamanns sich zurückführen lassen, ist folgendes: Alles, was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, muss aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich."
Hamann war kein systematischer Denker mit einer festumrissenen Grundlehre. Systeme verachtete er vielmehr und bekämpfte sie, wo immer er auf sie stieß. Er suchte die Erkenntnis tief in der menschlichen Empfindung. Sie flößte ihm die Einsicht ein, dass "unsere Existenz älter als unsere Vernunft sein muss".
Das Verbindungsglied dafür glaubte er in der Sprache gefunden zu haben. Hamann untersuchte in seinen ebenso streitbaren wie assoziativ ausufernden Schriften wegweisend das Verhältnis von Vernunft und Sprache. In seiner gründlichen Erfassung der Wesensart von Sprache gelangte er zur Unterscheidung von intuitiver und diskursiver Vernunft: Erstere suche die Übereinstimmung mit Gefühl und Glauben, Letztere befinde sich im schroffen Gegensatz dazu.
Der "Sturm und Drang", dessen Gärung er ebenso wie der um vierzehn Jahre jüngere Herder vorantrieb, war eine Protestbewegung der "Jungen Wilden" um 1770, ein Aufbegehren gegen die starren Regeln der von einer bevormundenden Aufklärung beherrschten Dichtkunst in Deutschland. Wie Honigseim schlürften die Stürmer und Dränger Hamanns befreiende Lehre: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts", heißt es da. "Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit." Später übernahm Herder die Stafette: "Die Stimme des Herzens ist ausschlaggebend für die vernünftige Entscheidung", dekretierte er. Und Schiller ließ seinen Karl Moor in den "Räubern" ausrufen: "Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum".
In seinen "Sokratischen Denkwürdigkeiten" (1759) zieht Hamann gegen zeitgenössische "Sophisten" und deistische Kritiker wie Voltaire zu Felde. Der hatte nach dem Erdbeben vom 1. November 1755 in Lissabon den Glauben an "die beste aller Welten", wie sie von Leibnitz postuliert worden war, verworfen. Hamann ruft als Kronzeugen seiner natur- und glaubensgestärkten Aufklärungskritik den antiken Denker Sokrates auf, den Urvater aller Weisheitslehrer, die einer lebensnahen Erfahrung zugetan, einer abstrakten Vernunftherrschaft hingegen abhold waren. Nicht die Erkenntnis des Verstandes ist die entscheidende, sondern die sinnlich wahrgenommene. Dem aufgeklärten Rationalismus wird der Hang zur Abstrak-tion vorgeworfen: er tut der Natur durch Verkürzung, Engführung und Entkräftung Gewalt an.
Regelfreie Genialität
Natur ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entweder Schutzmacht des Menschen (Rousseau) oder Gegner im Kampf um Zivilisation (Voltaire). Hamann bekämpft unter Berufung auf Sokrates, Spinoza und den damals einflussreichen englischen Moralphilosophen Shaftesbury den Alleinherrschaftsanspruch einer verstandestrockenen Aufklärung.
Er plädiert gemäß der Einheit der Schöpfung für eine coincidentia oppositorum, den Zusammenfall der Gegensätze. In einem seiner zahlreichen Briefe an Herder heißt es: "Nichts scheint leichter als ein Sprung von einem Extrem zum andern und nichts so schwer als ihre Vereinigung zu einem Mittel. (. . .) Diese Coincidenz scheint mir immer der einzig zureichende Grund aller Widersprüche und der wahre Proceß ihrer Auflösung und Schlichtung, aller Fehde der gesunden Vernunft und reinen Unvernunft ein Ende zu machen."
Seinen Geniebegriff für eine regelfreie Dichtkunst erläuterte Hamann an den Beispielen Homer und Shakespeare. Deren Schaffen lässt sich nicht mit den von Aristoteles festgelegten Gesetzen erklären. Vielmehr hätten sich diese Dichter ganz der Eingebung ihres Schöpfertums überantwortet. Hier träfen sie sich mit Sokrates, der sich dem Nichtwissen verpflichtet fühlte und sich deshalb ganz der Selbsterkenntnis, der Inspiration, seinem "göttlichen Dämon", anvertraut hätte.
Freiheit des Gefühls, Überschwang des Gemüts, emotio statt ratio - das war Hamanns Botschaft an die junge Generation seiner Zeit, die sich anschickte, den Vätern mit ihren strengen Lehren die Rokokozöpfe abzuschneiden. Der Geniekult wurde zum schöpferischen Credo. Er versprach nicht weniger als die verschwenderische Bereitschaft zur Überraschung, die aufbegehrende Leidenschaft für die regelfreie Verblüffung, das kühne Überschreiten von Grenzen, mit dem das Genie unerwartet Neues in die ästhetische Welt setzt. Im Unterschied zur Aufklärung, die Genialität nur als Kennzeichen einer Ausdruckskraft unter anderen begriff, sah Hamann im Genie das einzigartige schöpferische Wesen, das in die Geheimnisse Gottes einzudringen vermag, welche in Natur und Geschichte verborgen sind.
"Rede, dass ich Dich sehe!", ruft Hamann 1760 in seiner "Aesthetica in nuce" emphatisch Gott zu, und er fährt fort: "Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme."
Am gültigsten hat der 25-jährige Goethe in seinem Gedicht "Prometheus" die Gestalt des Genies gedeutet: "Hier sitz‘ ich, forme Menschen, / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, weinen / Genießen und zu freuen sich. . ."
Wissen durch Intuition
Hamanns Ablehnung einer Vorherrschaft der Vernunftgründe, seine Revolte gegen die damit verbundene Gefrierkälte des Gefühls und Schockstarre des religiösen Empfindens wirkte ansteckend auch für jene, die seinen - aus einem Erweckungserlebnis gespeisten - pietistischen Glaubensdrang nicht unbedingt teilten. Emphatisch vertrat diese Revolte die Überzeugung, dass die analytische Methode und die rationale Erfassung nicht das ganze Wissen ausmachen können, dass Klarheit nicht die vollständige Wahrheit zu enthüllen vermag. Hamann setzte dieser Einseitigkeit den Reichtum der Intuition entgegen: Die unbeschränkten Ausdrucksformen des Gefühls sollten die Möglichkeit unmittelbaren Wissens, einer totalen Gemeinschaft mit der metaphysischen Quelle des Glaubens bewahren.
Hamann geht es um "das ganze Ich". In diesem ist die Fülle der Gemütskräfte enthalten, die persönlicher, individueller sind als das bloße Denken. Das Ich empfindet sich eins mit den Kräften der Natur, die dem Gefühl ihren göttlichen Ursprung enthüllt: Intuition als gefühlte Offenbarung.
Die Stürmer und Dränger mit ihren Lehrmeistern Hamann und Herder zogen sich harsche Kritik selbst vonseiten freimütiger Theologenkreise zu. In seinem "Kirchen- und Ketzeralmanach auf das Jahr 1781" schrieb Karl Friedrich Bahrdt über Herder: "Ist ein Kraftgenie. Und man weiß ja, wie diese Herren sind. Sie rennen überall den Leuten wider die Stirn, . . . seh’n alles, was ihnen in den Weg kommt, für unsers Herrgotts Hornvieh an, und denken sich immer als die Einzigen vernünftigen Geschöpfe, die unter dem Monde leben.
Wie später sein Schüler Herder brachte sich auch Hamann in den 1780er Jahren argumentativ in Gegnerschaft zu seinem philosophischen Freund und Antipoden Kant, der sich gleichwohl als persönlicher Gönner stets für den chronisch mittellosen Magus einsetzte. Kants radikale Abstraktion von den bloß wahrnehmbaren Phänomenen des menschlichen Handelns und sittlichen Empfindens in seiner "Kritik der reinen Vernunft" (1781), mehr noch in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785), provozierte Hamanns Stellungnahme gegen ein mit derartiger Uhrmacherpräzision aufgezogenes Aufklärungswerk.
Metakritik an Kant
In seiner "Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft", von der Herder eine Abschrift erhielt, die aber aus Rücksicht auf Kant erst postum (1800) veröffentlicht wurde, formulierte er seinen Einspruch gegen die Trennung von Sinnlichem und Geistigem. Vielmehr, so Hamann, "entspringen Sinnlichkeit und Vernunft als zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis aus einer gemeinsamen Wurzel, so dass durch jene Gegenstände gegeben und durch diese gedacht werden". In der Sprache seien Sinnliches und Begriffliches untrennbar eng verbunden: "Wörter haben ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung zum Verstand und Begriffen."
Für Isaiah Berlin, den großen englischen Ideengeschichtsforscher, war Hamann ein Gegenaufklärer, doch das setzt ihn zu sehr mit einem Teil seiner Wirkungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert in eins. Tatsächlich war der 1730 als Sohn eines Baders geborene Königsberger Privatgelehrte zeitlebens ein antirationalistischer Querdenker, dessen oft unbeholfen und sibyllinisch vorgetragene Aufklärungskritik weit in die Frühromantik hinein wirkte. Mit ihrem sprachphilosophischen Ansatz und ihrer Auflehnung gegen die Bevormundung des Einzelnen durch aufklärungsgesteuerte Menschheitsverbesserer hat sie im Wesen bis heute ihre Stoßrichtung beibehalten.
Oliver vom Hove, geboren in Großbritannien, war Dramaturg am Burgtheater, Schauspielhaus Zürich, Volkstheater. Literaturwissenschafter und Publizist, lebt in Wien.