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War’s das?

Von Marianne Karner

Gastkommentare

Corona und der Umgang mit Behinderten und Pflegebedürftigen.


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Der 13. März 2020, der Tag des Herunterfahrens des öffentlichen Lebens angesichts der Coronavirus-Pandemie, scheint irgendwie schon weit weg zu sein. Angesichts der derzeit flachen Infektionskurve und des starken Drucks von Bevölkerungsgruppen, Opposition und Wirtschaft wurden und werden Einschränkungen zügig, oft auch überraschend schnell aufgehoben. Politiker ziehen Bilanz, man zeigt sich optimistisch und auf zukünftige ähnliche Krisen besser vorbereitet. Freilich schielt man schon sehnsüchtig nach den hoffentlich ruhigeren Sommermonaten, einer wohlverdienten Verschnaufpause vor einem heißen Herbst mit Wien-Wahl und möglicher Wiederzuspitzung durch die Grippe und eine mögliche zweite Corona-Welle.

Die vergangenen drei Monate haben wir unterschiedlich erlebt, auch unterschiedlich gelitten. Viele sind noch immer von Folgen der Corona-Krise betroffen: durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Schulden, schlimme Gewalterfahrungen, Verlust eines Angehörigen oder Verschlechterungen des psychischen oder physischen Gesundheitszustandes. Als chronisch kranker und behindertenpolitisch aktiver Mensch möchte ich hier folgende Aspekte beleuchten:

Das Sterberisiko
vor Augen

Viele meiner Peers gehören aufgrund einer Erkrankung oder schweren Behinderung zu Risikogruppen. Sie mussten nicht nur oft sehr rasch ihren kompletten Alltag umorganisieren und sich um Schutzausrüstung für ihre Assistenz selbst kümmern, sie standen auch vor der Herausforderung, sich mit dem möglichen Sterben und Tod bei einer Ansteckung auseinanderzusetzen. Patientenverfügungen wurden überdacht, Testamente bereitgelegt.

Keine Involvierung der
Behindertenvertreter

Das Herunterfahren war richtig. Über die Prioritätensetzung des Gesundheitsministeriums, Leben zu retten und italienische Verhältnisse unter allen Umständen zu verhindern, war ich froh. Dennoch müssen auch Kritikpunkte klar benannt werden. Was bereits vergangene Regierungen verabsäumt haben, nämlich die Ausarbeitung eines entsprechenden Pandemieplans mit entsprechenden Vorbereitungen, hat sich nun gerächt. Wissenschafter hatten schon lange davor gewarnt. Darauf, dass auch behinderte Menschen zu den vulnerablen Bevölkerungsgruppen gehören, wurde von der Politik viel zu spät reagiert. Dass in den offiziellen Krisenstäben und Expertenbeiräten weder die Behindertenanwaltschaft noch eine entsprechende Selbstvertretung behinderter Menschen vorgesehen war, ist ein Armutszeugnis für ein Land, das 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Die Einbindung erfolgte erst gegen Ende der ersten Welle, und das auch nur einseitig vom Sozial- und Gesundheitsminister.

Fragwürdiger Umgang
mit Menschenrechten

In der Corona-Krise hatten und haben es Menschen (oft gegen ihren Willen) in "Totalen Institutionen" - in Alten- und Pflegeheimen, Behinderteneinrichtungen, Psychiatrien, Asylwerberunterkünften, Haftanstalten - noch viel schwerer. Zumindest anfangs waren die Menschenrechtskontrollen der Volksanwaltschaft aus Sicherheitsgründen ausgesetzt oder sehr eingeschränkt. Eine etwas überzogene Maßnahme und ein alarmierendes Zeichen für den Umgang mit Menschenrechten in einer Demokratie. Die Veröffentlichung des Berichts der Volksanwaltschaft zur Corona-Krise erfolgt hoffentlich zeitnah. Missstände müssen benannt und Lösungen für die Zukunft erarbeitet werden. In der Pflege etwa kommt es vermehrt zu institutioneller Gewalt (Vernachlässigung, Freiheitsbeschränkung, Fixierung, Sedierung durch Medikamente) in Folge knapper Ressourcen, Überforderung und Überlastung. Dass die Menschenrechte in Pflegeheimen mehr beschränkt wurden und werden als bei anderen Bevölkerungsgruppen, ist unhaltbar. Noch dazu besteht die Gefahr, dass gewisse Beschränkungen auf Dauer aufrechterhalten werden.

Spaltung der
Bevölkerung

In der Corona-Krise wurde die Bevölkerung in Kategorien geteilt: "Helden" und Personen in "systemrelevanten Berufen" erhielten generell einen ganz besonderen Status. Stolz können Kinder auf "Helden" als Eltern verweisen. Aber wie geht es Kindern, deren Eltern arbeitslos oder krank sind?

Sorgen um das
Gesundheitssystem

Was viel zu wenig thematisiert wurde: der Zustand unseres (teils kaputtgesparten) Gesundheitssystems. Auch wenn wir in Österreich bis dato genügend Intensivbetten haben, wurden angesichts der Lage in Italien Überlegungen angestellt und Richtlinien für den Fall einer Ressourcenknappheit erarbeitet, die problematische Kriterien (wie eine Gebrechlichkeitsskala) enthalten. Heikle Triage-Entscheidungen kommen im medizinischen Alltag etwa auf Intensivstationen immer wieder vor. Covid-19 macht das Thema noch brisanter. Wie selbstverständlich ökonomische Aspekte schon den medizinischen Alltag bestimmen, zeigt sich beim fehlenden Aufschrei. Details zu den Covid-19-Fällen gerade in "Totalen Institutionen" wären auch für die Öffentlichkeit interessant. Und gibt es im Fall einer zweiten (stärkeren?) Welle wirklich genügend Betten?

Stagnation bei
Behindertenrechten

Bereits in den vergangenen Jahren vor der Corona-Krise gab es in Österreich eine Stagnation bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, teils sogar bedenkliche Rückschritte. Nun hat sich die Lage noch zusätzlich verschärft. Die Arbeitslosigkeit Behinderter ist eklatant, ebenso fehlende umfassende Inklusion und Barrierefreiheit. De-Institutionalisierung, leistbare Wohnungen und der Ausbau von bedarfsgerechter persönlicher Assistenz für alle Behinderten in allen Bundesländern scheinen weiter weg denn je. Trotz positiver Signale des Sozialministers lauern doch noch viele Gefahren. Wie lange wird diese Bundesregierung arbeiten? Worauf kann man sich einigen? Wahlkampftöne und erste politische Zwischenrufe, die soziale Neiddebatten und gesellschaftliche Spaltungen begünstigen, waren schon zu hören.

"Neue Gerechtigkeit"
und "neue Normalität"

Wie gerecht ist es, wenn ein behindertes Kind keine Möglichkeit hat, gleichberechtigt am Schulunterricht teilnehmen zu können? Wie gerecht ist es, mit guter Ausbildung wegen einer Behinderung keine Chance auf einen Job zu bekommen? Wie gerecht ist es, dass durch ein fehlendes Einkommen der Weg zu einem selbstbestimmten Leben in einer Wohnung verunmöglicht wird? Wie gerecht ist es, als Rollstuhlfahrer immer noch nicht in ein Geschäft oder Lokal zu kommen, obwohl der bauliche Aufwand dafür sehr oft ein wirklich zumutbarer wäre? Wie gerecht ist es, aufgrund von Erkrankung, Behinderung oder Alter im Alltag diskriminiert und zum Bittsteller und Almosenempfänger degradiert zu werden? Wie gerecht ist es, womöglich aufgrund fehlender Ressourcen und einer unzulässigen Bewertung menschlichen Lebens nicht die Gesundheitsversorgung zu erhalten, die man braucht? Das zunehmende Liebäugeln mit den Sichtweisen des Utilitarismus ist ein Alarmzeichen.

Gefahren bei
der Sterbehilfe

Die Corona-Krise ist noch nicht ausgestanden, da steht schon die nächste Herausforderung ins Haus: Der Verfassungsgerichtshof berät über die Sterbehilfe. Angesichts familiärer und sozialer Notlagen, knapper Ressourcen im Pflege-/Gesundheitsbereich und gesellschaftlicher Spannungen könnte bei einer Öffnung hin zum "assistiertem Suizid" aus einer Möglichkeit eine Pflicht, gar ein Zwang zum frühzeitigen Ableben entstehen. Die Corona-Krise hat die Angst, selbst alt, krank, gebrechlich und pflegebedürftig zu werden, sicher verstärkt. Die Antwort kann jedoch nur eine solidarische Gesellschaft sein, die Erkenntnis, dass die meisten letztlich doch noch bis zuletzt leben wollen, die Aufklärung über Möglichkeiten der Palliativmedizin, die Aufstockung der Ressourcen im Pflegebereich und damit die Verbesserung der oft als unwürdig empfundenen Umstände.