Sie fordern "nationale Souveränität und Selbstbestimmung". Doch wer sind die Brexit-Befürworter eigentlich?
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London. Sie können es kaum erwarten, dass Premier David Cameron heim kommt mit dem "lachhaften" Deal, den ihm "die Europäer" zugedacht haben. Cameron war am Donnerstag nach Brüssel gereist, um das Verhältnis zu Brüssel in mehreren Bereichen neu auszuhandeln und den "Brexit"-Befürwortern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Für Freitagabend haben Britanniens EU-Gegner schon eine Großkundgebung in London gegen die von Cameron angepeilte Vereinbarung mit der Union geplant.
Mit einer Blitz-Offensive wollen die Brexit-Befürworter an Boden gewinnen, bevor die Gegenseite so richtig in Gang kommt, mit all ihrer politischen Prominenz, mit ihren Konzern-Bossen und Gewerkschaftsführern. Auf diesen Augenblick haben sich die Rebellen monatelang vorbereitet. Endlich dürfen sie ihre Spruchbänder enthüllen. "Believe in Britain" (Glaubt an Britannien) ist darauf zu lesen. Für sie ist dies eine historische Chance.
Mehrere Minister und ein Dutzend Staatssekretäre stehen bereit, um am Wochenende ihr Schweigen zu brechen und zum Austritt aus der EU aufzurufen. In der Unterhaus-Fraktion der Regierungspartei ist die Basis der Brexit-Befürworter noch breiter. Mehr als die Hälfte der konservativen Abgeordneten will angeblich der EU den Rücken kehren.
Überlegenheit und Wehmut
Noch populärer ist diese Position an der Parteibasis, unter den einfachen Tory-Mitgliedern und Aktivisten. In zahlreichen Ortsverbänden gibt es überhaupt keine Fürsprecher für einen Verbleib. Das zweitstärkste Element stellen die Rechtspopulisten der Unabhängigkeitspartei Ukip, die zwar nur mit einem einzigen Abgeordneten im Unterhaus vertreten sind, bei den letzten Parlamentswahlen aber vier Millionen Stimmen erhielten. Ukips eigentlicher Lebenszweck ist der britische Austritt aus der EU.
Freilich nähren selbst bei Tories und Ukip-Leuten unterschiedliche Motive den Austrittswillen. Etliche konservative EU-Gegner sind Freihandel-Fans, die die britische Wirtschaft und den Finanzbezirk der City von ihren "EU-Ketten", vom "Zugriff Brüssels" befreien wollen.
Diesen Tories, meinen pro-europäische Kritiker spöttisch, schwebe ein "Singapur des Westens" am Rande Europas vor - ein nach allen Seiten freier, international ausgerichteter Handelsstaat ohne soziale Bande, auf der Basis freien Kapitalflusses und billiger Arbeitskräfte aus aller Welt.
Bei älteren Parteigängern Camerons spielen aber oft auch Wehmut um die einstige Größe Britanniens eine Rolle, und teils wohl auch ein sich hartnäckig haltendes Überlegenheits-Gefühl gegenüber dem Kontinent. Vielen ist der Zustrom von Ausländern, an dem ihrer Ansicht nach das Prinzip der EU-Freizügigkeit schuld hat, einfach zu viel.
In diese Richtung zielt auch die Unabhängigkeits-Partei Ukip, deren Vorsitzender Nigel Farage "volle Kontrolle über unsere eigenen Grenzen" fordert. Identität und Migration, oft emotional beladen, sind für diese EU-Gegner die zentralen Begriffe. Sie wünschen sich ein "Fortress Britain", eine britische Festung - abgeschottet gegen die Übel der Welt.
Die beiden unterschiedlichen Vorstellungen von einem künftig "eigenständigen" Britannien haben dazu geführt, dass schon seit Monaten zwei rivalisierende Gruppen um die Vorherrschaft im Anti-EU-Lager ringen. Das Freihandels-Lager sieht sich von der Gruppe "Vote Leave", die Festungs-Ideologie von der Organisation "Leave.EU" repräsentiert.
Statt eng zusammen zu arbeiten, haben beide Gruppen bittere Streitigkeiten ausgefochten. Auch persönliche Animositäten spielten dabei eine Rolle. Seit kurzem hat "Leave.EU" allerdings seine Basis zu verbreitern gesucht: durch eine neue, weiter gefasste Allianz, die sich "Grassroots Out" (oder kurz "GO") nennt.
Neben Farage und Ukip gehören auch eine ganze Reihe prominenter Tory-Abgeordneter, reiche Förderer und ein paar Labour-Politiker dieser Allianz an. "GO" hofft, in wenigen Tagen vom britischen Wahlausschuss als offizielle Vertreterin des Anti-EU-Lagers bestätigt zu werden und so für die Referendums-Kampagne 600.000 Pfund aus öffentlichen Geldern sowie kostbare Radio- und Fernsehzeit zugesprochen zu bekommen.
Kopf-an-Kopf-Rennen
Generell stehen Labour Party, Liberaldemokraten, Grüne sowie schottische und walisische Nationalisten auf Seiten der EU-Befürworter. Nur eine kleine Zahl von Labour-Abgeordneten macht sich für einen Brexit stark. Allerdings gibt es auch unter Labour-Wählern viele, die Zuwanderung und mögliche Job-Verluste fürchten. Wohin sie schwenken, dürfte wesentlich zum Ausgang des Referendums beitragen.
Den letzten Umfragen zufolge liegen EU-Gegner und EU-Befürworter Kopf an Kopf. Mit Spannung warten die Brexit-Kämpfer darauf, wie sich der Londoner Bürgermeister Boris Johnson entscheidet. Ein Problem der Austrittswilligen ist, dass ihnen bisher ein populärer Kopf für ihre Kampagne fehlt. Sollte Johnson diese Rolle übernehmen, könnte er der Nein-Seite ein paar kostbare Extra-Prozent beschaffen.