Die Früchte der digitalen Technologien hängen hoch: Zwar wächst weltweit die Produktivität, allerdings viel langsamer als erhofft.
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Groß war die Hoffnung, dass der technologisch bedingte Umbruch mit Automaten, Vernetzung, smarten Dingen oder Künstlicher Intelligenz ein zweites Maschinenzeitalter einläuten würde, in dem die Wirtschaft prächtig gedeihen und die Produktivität sprunghaft ansteigen würde. Doch wie Statistiken zeigen, ist der erwünschte Paradigmenwechsel bisher nicht eingetreten: Anhaltende Höhenflüge der Wirtschaft durch den Einsatz digitaler Technologien sind bisher ausgeblieben.
"Computer finden sich überall - außer in den Produktivitätsstatistiken", wird der US-Ökonom Robert Solow in diesem Zusammenhang oft zitiert. Was der Wirtschaftsnobelpreisträger bereits im Jahr 1987 feststellte, scheint nach wie vor aufrecht. Damals schon hatten Investitionen in neue Technologien die Erwartungen auf ein höheres Wachstum der Produktivität in die Höhe geschraubt.
Keine großen Sprünge
Dass sich dies nicht erfüllte, ist als Solow’sches Produktivitätsparadoxon bekannt - und es gilt bis heute, denn der große Sprung nach vorne ist bisher ausgeblieben, Digitalisierung bedeutet auch heute nicht unbedingt schnelleres Wachstum. Egal ob in den USA oder in der EU: In den westlichen Industrienationen verharrt in den Volkswirtschaften der Produktivitätszuwachs auf niedrigem Niveau, die Hoffnung, mit den neuen Technologien würde die Produktivität wie in den Wellen der Industrialisierung wachsen, bleibt damit unerfüllt.
Das Wachstum der Produktivität ist langfristig ein wichtiger Indikator für Fortschritt, wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand eines Staates. Zwar haben Industrie 4.0 und Büro 4.0, also allen voran Robotisierung, Informationstechnologien und Kommunikationstechnologien (IKT), die Arbeitsweise von Unternehmen tiefgehend verändert, doch bei der gesamtwirtschaftlichen Produktivität nicht zu dem erwünschten Ergebnis geführt.
Auch in Österreich gilt das Produktivitätsparadoxon. Auch hier ist es noch nicht gelöst, obwohl die Digitalisierung zu mehr Produktivität geführt hat. "Wir wachsen zwar schneller als ohne Digitalisierung, aber noch immer langsamer als zum Beispiel von zwanzig Jahren. Der Zuwachs ist geringer - trotz vieler neuer Technologien", sagt dazu die Ökonomin Agnes Kügler vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Erklärungen für dieses Phänomen gibt es verschiedene: Das Produktivitätswachstum sei erst in der Zukunft zu erwarten, heißt es etwa. Oder, dass die Ergebnisse der Statistiken an der Art des Messens liegen würden: "Wir verwenden heute Technologie ganz anders - vor allem, um uns zu unterhalten und nicht, um zu produzieren", so Kügler. Manche meinen auch, dass einfach schon alles ausgereizt sei und daher keine großen Sprünge mehr möglich seien; es gehe jetzt nur nuch um das Feintuning.
Sprung zur Virtuellen Realität
Andere Ansätze betonen den bevorstehenden Paradigmenwechsel bei den digitalen Technologien, nämlich den nächsten Sprung hin zur Virtuellen Realität (VR). Ein anderer Erklärungsansatz hat wiederum einen anderen elementaren Wandel im Blick: "Im Aggregat ist der Produktivitätszuwachs langsamer als noch vor zwei Jahrzehnten, weil wir uns in der Ausrichtung geändert haben", erklärt Kügler. "In den fortschrittlichen Volkswirtschaften bewegen wir uns in Richtung Dienstleistungsgesellschaft, in der der Anteil der primären, also der Landwirtschaft, und der sekundären, also der Industrie- und Sachgüter, immer kleiner wird, während der Dienstleistungssektor immer größer wird. Die Produktivitätszuwächse sind hier jedoch langsamer als in der Sachgüterindustrie."
Es gibt also viele verschiedene Erklärungsansätze. "Keiner kann als alleinige Erklärung angesehen werden, es wird wohl eine Kombination aus verschiedenen Gründen sein, und diese sind sehr marktspezifisch", meint die Wifo-Ökonomin Fest steht allerdings auch, dass die Corona-Krise die Technologie-Adaption weiter vorangetrieben hat. Durch die Pandemie haben sich neue technologische Ausstattungen in beinahe allen Lebensbereichen durchgesetzt - vom Arbeiten im Homeoffice über Distance Learning bis hin zu Videokonferenzen und E-Commerce, egal ob in Unternehmen oder in privaten Haushalten.
Faulenzen im Homeoffice?
Kam es durch die Pandemie nun zu dem ersehnten Produktivitätsschub? "Empirisch lässt sich zur Produktivitätsentwicklung der vergangenen zwei bis drei Jahre noch nichts fix sagen, es fehlen noch die genauen Daten", sagt Ökonomin Kügler. Allerdings ist ein Digitalisierungsschub durch die Pandemie zu beobachten. "Das ist aber nichts spezifisch Österreichisches, sondern alle Länder der EU waren davon betroffen. Den Schritt nach vorne haben andere Länder auch getan, es resultierte daraus kein Wettbewerbsvorteil für Österreich."
Die Pandemie hat auch eine weitreichende und permanente Reorganisation des Arbeitslebens mit sich gebracht. "Die Lockdowns haben gezeigt, dass die Menschen sehr produktiv waren - weil sie die ganze Zeit gearbeitet haben", betont Julia Hobsbawm dazu im Gespräch zur "Wiener Zeitung". Die britische Autorin untersucht unter anderem die kulturelle Auswirkung von Produktivität sowie die Überschneidungen von Wirtschaft und Kultur. "Das Produktivitätsparadoxon ist sogar noch größer ist als zuvor", ist sie überzeugt. Denn während der Corona-Pandemie wurde ein Produktivitätsanstieg beobachtet, "der jedoch auf Kosten der geistigen und emotionalen Gesundheit der Arbeitnehmer ging".
Die Produktivität sei seither im Diskurs über Arbeit vorherrschend, erklärt Hobsbawm weiter. Die Arbeit befinde sich in einer Krise, und deshalb gehe es in der Diskussion zwangsläufig auch um die Produktivität. So sorgte etwa Tesla-Chef Elon Musk im Vorjahr für Aufregung mit seiner Kritik, dass im Homeoffice nur gefaulenzt würde. "Die können woanders so tun, als arbeiteten sie", schrieb er in einer E-Mail, die später geleakt wurde. Die Betreffzeile lautete: "Telearbeit ist nicht mehr hinnehmbar."
Komplizierte Beziehung
Es gibt also Argumente auf beiden Seiten. "Wenn man argumentieren will, dass eine flexible Belegschaft weniger produktiv ist, dann findet man die Daten, die dies belegen. Wenn man hingegen argumentieren will, dass sie dadurch produktiver ist, kann man ebenfalls Argumente finden", sagt Hobsbawm. "Das liegt daran, dass wir uns am Anfang einer neuen industriellen Revolution befinden, in der Technologie und Mensch in einer komplizierten Beziehung zueinander stehen."
Produktivität misst den wirtschaftlichen Ertrag pro eingesetzter Arbeitseinheit. Doch abgesehen von den nüchternen Metriken dafür sind auch andere Zugänge möglich. Denn auch gute Ideen und Fantasie sind für das Wirtschaftswachstum notwendig. Doch lassen sich diese überhaupt messen? "Sie werden selten unter Produktivität erfasst", kritisiert Hobsbawm. "Produktivität braucht Kreativität und Innovation. Doch das System Arbeit ist in Schwierigkeiten; entweder, weil die Werktätigen zu hart arbeiten, wie vor hundert Jahren, als die Produktivität die absolute Maßeinheit war, oder weil - im Gegensatz dazu - viele gar nicht mehr arbeiten wollen."
Weitere Grafiken und das Interview mit Julia Hobsbawm im Wortlaut finden Sie auf www.wienerzeitung.at/dighum