Zum Hauptinhalt springen

Warten auf den nächsten Gipfel

Von Martyna Czarnowska und Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Dass ausgerechnet zwei Gründerstaaten der Europäischen Union die Verfassung ablehnten, bringt die EU an den Rand einer Krise. Wie es mit dem Ratifizierungsprozess weitergeht, bleibt vorerst offen. Ein Scheitern des Vertragswerks könnte auch Auswirkungen auf die nächsten Erweiterungsrunden haben.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ratlosigkeit herrscht in der EU-Kommission. Denn einen Alternativplan, sollte die EU-Verfassung scheitern, hat es offiziell nicht gegeben. "Die Zukunft des Projekts ist ungewiss", bestätigte Industriekommissar Günter Verheugen. Es bestehe "ein gewisses politisches Vakuum für die nächsten 14 Tage" bis zum Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs Mitte Juni. Bei denen liege die Verantwortung für die Ratifizierung.

Schlagabtausch in Brüssel

In Brüssel ist daher ein heftiger Schlagabtausch zu erwarten. Höchst unterschiedlich sind nämlich die Ansätze zur weiteren Vorgehensweise. Die Luxemburger Ratspräsidentschaft habe vorerst entschieden, dass der "Fahrplan" der Ratifizierung aufrecht erhalten werden soll, erläuterte Verheugen. Diese "Option wird von den meisten Regierungen gewünscht, die noch nicht ratifiziert haben". Klar sei, dass es sich dabei um einen "zwischenstaatlichen Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten" handle.

Die Lehre aus den Niederlagen in Frankreich und den Niederlanden hat Verheugen schon gezogen. "Wir können keine großen europäischen Projekte starten, ohne die Bürger mitzunehmen", meinte er. Allerdings könnten das die EU-Institutionen alleine nicht bewerkstelligen. Es gäbe nämlich weder europaweite Medien, noch eine europäische Öffentlichkeit. Informationen aus Brüssel erreichen den Einzelnen nur über den "Filter der Innenpolitik". Darüber hinaus fehle ein "Gesicht Europas". Die Tendenz gehe nämlich dazu, sich politisch nicht mehr mit Inhalten, sondern mit Personen zu identifizieren. "Aber wer soll das sein?" fragte Verheugen: "Mir fällt im Augenblick niemand ein."

Zu spät für EU-weites Votum

Der Vorschlag des österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel über eine europaweite Volksabstimmung zur EU-Verfassung wäre laut Verheugen "demokratisch richtig". Allerdings sei es dafür schlicht "zu spät". Eine bindende Abstimmung würde darüber hinaus etwa in Deutschland zu verfassungsrechtlichen Problemen führen. Für eine rein konsultative Befragung sehe er wiederum wenig Zustimmung in der EU.

Vorsorglich hatte Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso schon am Mittwochabend vor einseitigen Schritten im Ratifizierungsprozess vor dem Gipfel am 16. und 17. Juni gewarnt. Als Sorgenkind gelten hier vor allem die Briten. "Lassen Sie es mich klar sagen, es ist nicht an einem einzelnen Land, diese Verfassung für tot zu erklären", sagte zwar Europaminister Douglas Alexander. Allerdings könne die Regierung in London "nun nicht so tun, als ob sich nichts geändert habe", meinte er vieldeutig. Mit Spannung erwartet wird nun der Auftritt von Außenminister Jack Straw am Montag vor dem britischen Parlament. Die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien am Referendum festhält, sinkt. Stattdessen könnte Premier Tony Blair Mitte Juni versuchen, Verbündete für einen Stopp des Ratifizierungsprozesses zu finden.

Verdichten oder verlängern

Wolfgang Schüssel hingegen tritt für eine "Verdichtung" des Prozesses ein, was auf eine Verkürzung hinauslaufen würde. Sein tschechischer Kollege Jiri Jaroubek wiederum will für eine Verlängerung der Frist plädieren.

Rufe nach einer Neuausrichtung der europäischen Politik kamen unterdessen auch aus dem EU-Parlament. "Der Alternativplan kann nach dem doppelten Nein nur lauten: Politikwechsel auf der europäischen Ebene", erklärte der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Ingo Friedrich. Die Analyse der Ablehnungsgründe hätte deutlich gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger im Kern nicht über die EU-Verfassung abgestimmt haben. Die Menschen hätten kein Verständnis für ein sich maßlos überdehnendes Europa. "Wir brauchen jetzt ein Beitrittsmoratorium, um die Wertegemeinschaft Europa vertiefen zu können", forderte der CSU-Politiker.

Spekulationen über Verzögerungen bei den nächsten Erweiterungsrunden hat die EU-Kommission zwar zurückgewiesen. Doch die Debatte um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei ist neu entbrannt. So bekräftigte die oppositionelle CDU/CSU in Berlin ihre Kritik an der EU-Perspektive für Ankara. Und auch der für 2007 geplante Beitritt Bulgariens und Rumäniens wird in Frage gestellt.

Warnung an Rumänien

Mittlerweile hat aber auch die Kommission die unzureichenden Reformen in den beiden Staaten bemängelt. Er werde den Regierungen in Sofia und Bukarest in Kürze "Warnbriefe" senden, kündigte Erweiterungskommissar Olli Rehn an. Dies sei eine "gelbe Karte" für die Beitrittskandidaten. Die Warnung müsse angesichts des "Klimas in Europa" ernst genommen werden, forderte Rehn.

Andere Sorgen hat da der spanische Ministerpräsident Jose Luis Zapatero, dessen Vorgänger Jose Maria Aznar sich gegen den Verfassungsentwurf gewehrt hat. Für das Einverständnis zum Vertragswerk konnte Zapatero auf keine Zugeständnisse seitens der EU hoffen. Und dass er auf die EU-Mächte Deutschland und Frankreich setzte, bringt ihm nun den Hohn der konservativen Volkspartei ein. Zapatero solle mit der deutsch-französischen Achse - der "Achse der Verlierer" - brechen, forderte Parteivorsitzender Mariano Rajoy. Angesichts der Ablehnung der EU-Verfassung in zwei Staaten kann es für Zapatero nun lediglich ein schwacher Trost sein, dass die Spanier die ersten waren, die in einem Referendum für das Vertragswerk stimmten.