Verfassungsgericht verhandelt am | 10. Juli über 12.000 Beschwerden gegen ESM.
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Berlin. Am 10. Juli wollen sich die Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts mit rund 12.000 Verfassungsbeschwerden gegen den Euro-Rettungsschirm ESM (European Stability Mechanism) und den EU-Fiskalpakt für Budgetdisziplin befassen. Wann mit Entscheidungen zu rechnen ist, ist offen, das Gericht ist nicht an Fristen gebunden. Doch die Zeit drängt: Die europäischen Partner Berlins sowie die Anleihen-Märkte wollen möglichst rasch Klarheit über die zukünftige Finanzarchitektur Europas.
Bundestag und Bundesrat hatten am späten Freitagabend der vergangenen Woche dem Fiskalpakt und dem ESM mit Zweidrittelmehrheiten zugestimmt.
Gleich nachdem das Parlament in Berlin grünes Licht für ESM und Fiskalpakt gegeben hatte, gingen die ersten Beschwerden in Karlsruhe ein. Die Linken schickten ein Fax, der CSU-Politiker Peter Gauweiler einen Boten, und der Geschäftsführer der Initiative "Mehr Demokratie" kam gleich höchstpersönlich vorbei, um seine Verfassungsbeschwerde abzugeben.
Die Beschwerdeführer halten die Gesetze zu ESM und Fiskalpakt für nicht verfassungskonform. Der Vorsitzende des Bundsverbands der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, donnerte: "Der ESM ist ein Putsch gegen das Grundgesetz", mit dem ESM und dem Fiskalpakt gebe Deutschland ohne Not Rechte ab, ohne dass die Bürger gefragt würden. Und die Erste Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, Sarah Wagenknecht, meinte in einem Interview mit dem deutschen TV-Infokanal Phoenix, die parlamentarischen Beschlüsse seien "ein elementarer Eingriff in die Haushaltsrechte des Bundestages".
Für die deutsche Bundesregierung ist das Urteil der Karlsruher Richter hingegen ein "fait accompli" und nicht viel mehr als eine Formsache: Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte zur "Passauer Neuen Presse", sie sei zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Klagen allesamt abweisen werde. Das Gericht habe bisher bei einzelnen Gesetzen "Leitplanken eingezogen", die Hilfen grundsätzlich aber nicht beanstandet. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach, ein Kritiker des Euro-Kurses der Bundesregierung, sagte, auch die Richter wüssten, welche außen- und finanzpolitischen Wirkungen ein kategorisches Nein aus Karlsruhe hätte. Bosbach meinte gegenüber der "Rheinischen Post", er gehe davon aus, dass die Richter in Karlsruhe dem Gesetzgeber kritische Hinweise geben und zu einer "Bis-hierher-und-nicht-weiter-Entscheidung" kommen würden.
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts hatten erst vor kurzem einiges Aufsehen erregt: Tage vor den Abstimmungen in Bundestag und Bundesrat baten sie Bundespräsident Joachim Gauck, die Unterzeichnung der Gesetze zum ESM und zum Fiskalpakt nach der parlamentarischen Verabschiedung zu verzögern, um Zeit für die Bearbeitung der erwarteten Verfassungsbeschwerden zu gewinnen. Gauck kündigte daraufhin an, er wolle mit seiner Unterschrift jedenfalls abwarten, bis das höchste Gericht über die Eilanträge entschieden habe. Denn erst mit der Unterschrift des Bundespräsidenten sind die Abkommen ratifiziert.
Richter werden wohl ihrer Linie treu bleiben
Doch wie werden die Träger der Roten Roben von Karlsruhe entscheiden? Die bisherige Rechtssprechungspraxis gibt Hinweise, denn die Richter werden ihrer bisherigen Linie treu bleiben: 1993 haben sie etwa das bahnbrechende "Maastricht-Urteil" gefällt. Der in Maastricht geschlossene EU-Vertrag sei so lange mit der Verfassung vereinbar, meinten sie damals, wie eine "vom deutschen Volk ausgehende Legitimation im europäischen Staatenverbund sichergestellt" sei.
Dann das Urteil zum Vertrag von Lissabon 2009: Darin heißt es, dass den Mitgliedstaaten ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben müsse. Und dazu gehören eben auch "Grundsatzentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben".
Im September 2011 wiesen die Verfassungsrichter Beschwerden gegen Euro-Rettungsschirm und Griechenland-Hilfe ab. Und zwar mit der Begründung: Solange der Bundestag zustimme, sei alles rechtens. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, warnte damals bei der Urteilsverkündung allerdings, der Spruch dürfe "nicht fehlgedeutet werden in eine verfassungsrechtliche Blanko-Ermächtigung für weitere Rettungspakete".
Müssen die Richter "dieses eine Mal (...) die Verträge noch einmal durchwinken, weil sonst alles in Schutt und Asche fällt", wie Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung" schrieb, oder ist "das Grundgesetz ausgepresst bis zum letzten Rest", wie es im selben Text heißt? Für die Richter in Karlsruhe geht es nun darum, wo sie die rote Linie ziehen.