Die russische Armee scheint in der Region an Momentum zu verlieren, will aber nach dem Besuch von Präsident Selenskyj neue Kräfte bündeln. Doch es fehlen Waffen.
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Die letzte Tankstelle vor der Front in Bachmut befindet sich in Kostyantynivka. Dort, in der "Okko"-Tankstelle, die der größten Tankstellenkette der Ukraine gehört, gibt es Snacks, Schokoriegel, Red Bull, Hot Dogs, Kaffee und was Tankstellenshops eben so führen. "Bei uns ist man nicht mehr zu Hause, aber noch nicht am Ziel", heißt es im Werbeclaim des Unternehmens. Seit die Frontlinie nicht weit von hier verläuft, liest sich dieser Slogan nicht ohne Ironie. Denn diese Tankstelle ist in der Transitzone zwischen relativer Normalität und der Kriegshölle von Bachmut, wo nichts mehr normal ist.
Am Mittwoch schneite hoher Besuch in diese Tankstelle herein: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj trank dort einen Espresso und wurde für eine endlose Serie von Selfies in Beschlag genommen: Selenskyj mit dem Tankstellenpersonal. Selenskyj mit Kunden des Tankstellenshops. Selenskyj mit Soldaten.
Zuvor hatte der Präsident in der Nähe von Bachmut Soldaten geehrt und in einer Lagehalle Orden an die Angehörigen einer Artillerieeinheit verliehen. "Ich fühle mich geehrt, heute hier zu sein, um unseren Helden Auszeichnungen zu verleihen. Um ihnen die Hand zu schütteln und ihnen dafür zu danken, dass sie die Souveränität unseres Landes schützen", schrieb Selenskyj auf dem Kurznachrichtendienst Telegram.
Gemeinsam mit dem Militärgouverneur des Bezirks Donezk, Pavlo Kyrylenko, hat er ein Lazarett besucht, verwundeten Soldaten Mut zugesprochen und Genesungswünsche überbracht. Denn trotz der schweren Zerstörungen und des Leids gebe es in diesen Gebieten Hoffnung. "Man kann sie spüren", sagte Selenskyj. "Wir werden alles tun, damit die blauen und gelben Farben ihre Befreiungsbewegung fortsetzen und das normale Leben in unser ganzes Land zurückkehren kann, von Donezk bis zur Grenze", sagte der Präsident unter Anspielung die Farben der ukrainischen Flagge.
Im Dezember 2022 war Selenskyj das letzte Mal hier und schon damals tobten schwere Kämpfe im ganzen Gebiet um die Stadt. Nun ist der Präsident wieder hier. Die Botschaft: Bachmut wird weiter gehalten.
Ukrainische Gegenoffensive
Zuletzt gab es sogar Gerüchte, wonach die Ukraine nahe der seit Monaten heftig umkämpften ostukrainischen Stadt einen Gegenangriff auf die russischen Streitkräfte vorbereitet. Auf Videos war zu sehen, dass eine größere Anzahl von gepanzerten Fahrzeugen der ukrainischen Streitkräfte in die Stadt eingerückt sind.
Der Befehlshaber der ukrainischen Bodentruppen, Oleksandr Sirski, erklärte am Donnerstag im Kurznachrichtendienst Telegram, dass die russischen Truppen "deutlich an Kraft" verlören und "erschöpft" seien. "Wir werden diese Gelegenheit sehr bald nutzen, so wie wir es bei Kiew, Charkiw, Balaklija und Kupjansk getan haben", schrieb er. Russland wolle Bachmut um jeden Preis einnehmen und scheue weder Verluste an Menschen noch an Material, schrieb Sirski weiter.
"Wir können noch nicht beginnen"
Präsident Selenskyj bezeichnete allerdings die militärische Lage im umkämpften Osten seines Landes als "nicht gut". In einem Interview mit der japanischen Tageszeitung "Yomiuri Shimbun" klagte er über den "Mangel an Munition" und erklärte auf die Fage nach einer möglichen Gegenoffensive: "Wir können noch nicht beginnen." Ohne Panzer und Artillerie könne man "keine tapferen Soldaten" an die Front schicken. "Wir warten darauf, dass Munition von unseren Partnern eintrifft." Das russische Militär feuere jeden Tag dreimal mehr Munition ab als die ukrainischen Streitkräfte.
Zuletzt haben die Verteidiger neue Angriffe russischer Truppen nach eigenen Angaben erfolgreich abgewehrt. Wie der Generalstab in Kiew am Mittwochabend erklärte, hatten russische Einheiten versucht, die Zange um die Stadt von Norden und Süden zu schließen. "Der Gegner setzte seine Bemühungen fort, die Stadt zu erobern, und das mit erheblichen Verlusten an Truppen und Waffen", schrieb der Generalstab in Kiew auf dem Social-Media-Dienst Facebook in seinem täglichen Lagebericht.
Das britische Verteidigungsministerium hatte zuvor unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse von einer nachlassenden Dynamik russischer Angriffe bei Bachmut berichtet. Zudem hätten ukrainische Truppen mit eigenen Vorstößen für Entlastung gesorgt, hieß es, im täglichen Geheimdienst-Update, das auf dem Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlicht wird. "Es gibt die durchaus realistische Möglichkeit, dass der russische Angriff auf die Stadt an Momentum verliert, zum Teil deswegen, weil einige Einheiten der russischen Armee zu anderen Frontabschnitten beordert wurden."
Aufrüstung auf beiden Seiten
Die Russen erzielten Agenturberichten zufolge wiederum am Donnerstag im Frontabschnitt Kreminna Geländegewinne von teilweise mehreren Kilometern.
Beide Seiten in diesem Krieg stellen sich offenbar darauf ein, dass die Kämpfe noch länger dauern. Der Westen rüstet die Ukraine weiter auf, erste MiG-29-Kampfjets aus der Slowakei wurden in die Ukraine überstellt und die Europäische Union hat auf dem EU-Gipfel diese Woche ein Munitionsbeschaffungsprogramm für die Ukraine abgesegnet.
Russland wiederum hat angekündigt, in diesem Jahr 1.500 Panzer für den Krieg gegen die Ukraine produzieren zu wollen. Experten bezweifeln freilich, dass sein Land solche Mengen herstellen kann. Die derzeitige Produktionskapazität der Panzerfabriken wird auf maximal 250 Stück pro Jahr geschätzt.