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Warten auf ein Sozialmodell in EU

Von Martina Luxen, Brüssel

Europaarchiv

Eine erste Gelegenheit, dem europäischen Sozialmodell Konturen zu geben, hatten die 26 EU-Minister und -Staatssekretäre vergangenes Wochenende in der belgischen Stadt Lüttich. Konkrete Beschlüsse waren auf diesem informellen Treffen nicht zu erwarten. Hier wurde die notwendige Vorarbeit geleistet: Neue Ideen wurden getestet, Ansätze diskutiert und Maßnahmen für ein soziales Europa ausgewertet.


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Dass Wirtschafts- und Währungsunion allein nicht genügen, um Europa in den Köpfen seiner Bürger zu festigen, will man an höchster Stelle nun endlich begriffen haben. Nach Jahrzehnte langen Anstrengungen zur Marktliberalisierung braucht Europa dringender denn je auch einen sozialen und solidarischen Stützpfeiler. Stets lautstärkere Proteste der sozialen Organisationen, Schließungen wie die des französischen Renault-Werks in Belgien oder der britischen Warenhauskette Marks & Spencer haben das soziale Defizit an den Pranger gestellt. Die EU-Sozialpolitik steht deshalb auch ganz oben auf der Prioritätenliste der belgischen Ratspräsidentschaft. Arbeitsministerin Laurette Onkelinx will "soziale Blauhelme" europaweit einsetzen: Bei sozialen Spannungen in Unternehmen mit Produktionsstätten in verschiedenen EU-Ländern sollen die Blauhelme den Konflikt zwischen Belegschaften und Arbeitgebern schlichten und dabei die unterschiedlichen sozialen Gesetzgebungen berücksichtigen. Griechenlands EU-Kommissarin für Beschäftigung, Anna Diamantopoulou, unterstützt diese Idee. Positiv reagiert haben auch Großbritannien, die Niederlande, Frankreich, Spanien und Portugal.

Soziale Blauhelme

Auch die verschiedenen Sozialpolitiken und nationalen Gesetzgebungen sollen koordiniert und angeglichen werden. Ein erster Versuch war 1997 beim Gipfel in Luxemburg gestartet worden: Bis 2010 sollte ein Beschäftigungsniveau von 70 Prozent erreicht werden. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, dieses Ziel mit genauso strengen Konvergenzkriterien zu erreichen, wie sie den Beitritt zur Währungsunion mit Haushaltssanierungen geschafft haben. Arbeitsstellen sollen aber nicht um jeden Preis, ohne Rücksicht auf Qualität und langfristige Beschäftigung, entstehen.

Unter Belgiens EU-Vorsitz sollen Qualitätsnormen für Einkommen, Mobilität, Ausgleich zwischen Privat- und Berufsleben, Chancengleichheit usw. verabschiedet werden. Um beispielsweise die Sicherheit am Arbeitsplatz zu messen, soll eine Arbeitsunfallstatistik angelegt werden. Europaweit verursachen Arbeitsunfälle jährlich den Verlust von 2,5 mal mehr Arbeitstage als Arbeitsniederlegungen. Bis Oktober sollen die Qualitätsnormen fixiert sein. Diese müssen die Mitgliedstaaten in die nationalen Beschäftigungspläne aufnehmen, die auf dem Gipfel der Beschäftigungs- und Sozialminister am 13. Dezember vorgelegt werden. Auch die soziale Ausgrenzung soll mit Indikatoren erfasst werden, die den Fortschritt der Mitgliedstaaten im Kampf gegen die Armut belegen. 62 Millionen Europäer leben heute unter der Armutsgrenze.

Die Rentenpolitik soll eine nationale Angelegenheit bleiben, aber Europa muss sich trotzdem einmischen, so Sozialminister Frank Vandenbroucke, der die Pensionsproblematik auf der Lütticher Ratssitzung präsentierte. Wer Wirtschaftspolitik betreibt, kann die Entwicklung der Pensionen in einer stets älter werdenden Gesellschaft nicht ignorieren. Die Überlegungen zu den Pensionen stehen aber erst im Frühjahr 2002, in Madrid, zur Debatte.

Gipfel am 13. Dezember

Wie weit die belgische Ratspräsidentschaft mit dem europäischen Sozialmodell kommt, wird sich am 13. Dezember zeigen: Am Tag vor dem Gipfeltreffen von Laeken treffen sich dort auch die EU- Minister für Arbeit und Soziales, zusammen mit den Vertretern der europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden. Dann wird sich weisen, was man im letzten Halbjahr geleistet hat, um die Konturen eines sozialen Europas zu verdeutlichen und wie entschlossen man ist, um das soziale Europa mit dem gleichen Ehrgeiz voranzutreiben wie die freien Märkte und den Euro.