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Sanja kann das Gemotze ihrer Kommilitonen einfach nicht mehr hören. "Sollen sie doch selbst etwas machen, statt immer nur in Cafés zu sitzen und über die schlechte Lage zu lamentieren", schimpft die 23jährige Studentin. Ihre letzte Prüfung an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften in Sarajewo hat sie im Oktober hinter sich gebracht, jetzt steht nur noch die Abschlussarbeit bevor. Ein halbes Jahr bleibt ihr Zeit für ihre Studie über Bosniens Verhältnis zur EU. "Das ist wenigstens etwas Praxisbezogenes", erklärt sie mit entschlossenem Ton in der Stimme.
250 Euro Durchschnittslohn
Zwar glaubt auch Sanja nicht daran, dass das anspruchsvolle Ziel von Ministerpräsident Adnan Terzic, bis 2009 der EU beizutreten, wirklich erreicht werden kann. Doch immerhin steigen mit einer Expertise zu diesem Thema ihre eigenen Chancen, bei einer der seit Kriegsende in Bosnien stationierten internationalen Organisationen unterzukommen. Und es wächst auch die Möglichkeit, in Sarajewo oder einer anderen bosnischen Stadt ein Gehalt zu bekommen, das die kläglichen 250 Euro Durchschnittslohn übersteigt.
Denn in den anderen Sektoren der bosnischen Volkswirtschaft, die fast vollständig von Weltbankgeldern und den Finanzspritzen des Internationalen Währungsfonds abhängig ist, sieht die Lage auch knapp acht Jahre nach Unterzeichnung des Dayton-Friedensvertrages noch immer düster aus. Mehr als fünf Milliarden Euro Hilfs- und Entwicklungsgelder sind seit 1995 in das bergige Land mit dem kleinen Adria-Zugang geflossen. Doch bis heute sind es weiterhin die unzähligen NGOs, Botschaften, Institutionen wie der Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen oder die von der NATO geführte Bosnien-Schutztruppe SFOR, die die aussichtsreichsten Jobs anzubieten haben.
Auch Sanja arbeitet regelmäßig als Übersetzerin für die spanische Botschaft. Spanisch hat sie im mexikanischen Cancún gelernt, wo sie 1992, während der Belagerung Sarajewos durch serbische Truppen, gemeinsam mit ihrer Mutter Unterschlupf bei Verwandten fand. Sie will nicht ausschließen, dass sie nach dem Abschluss ihrer Diplomarbeit erneut ins Ausland geht. Im Gegenteil: "Wenn ich ein Stipendium für ein Postgraduiertenstudium bekäme, würde ich es sofort annehmen - egal, ob in Spanien, Frankreich oder England". Selbst eine weitere Fremdsprache neben Spanisch und Englisch würde sie dafür lernen. Und wenn sie ein Angebot für einen Arbeitsplatz in der florierenden Tourismusbranche von Cancún erhielte, würde sie nicht lange zögern und gehen.
Herrschaft der Parteien, die 1992 den Krieg anzettelten
Mit dieser Haltung steht Sanja nicht allein. Die Schlangen vor den Botschaften der EU-Staaten in Sarajewo sind lang. Die klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada, Australien und Neuseeland zählen ebenfalls zu den begehrten Ausreisezielen der jungen Bosnier. Vor allem flexible, ungebundene Leute wie Sanja zieht es in die Ferne - angesichts der weitgehend ungebrochenen Herrschaft jener Parteien, die 1992 den Krieg anzettelten, kein Wunder. Wenn die Elterngeneration ihnen schon die Kindheit verpfuscht hat, warum sollten sie sich auch noch die Zukunft von engstirnigen Nationalisten verbauen lassen?
Auch Kevin Sullivan von der Protektoratsbehörde des Hohen Repräsentanten (OHR) hat darauf keine Antwort. Als Sprecher für Wirtschaftsfragen ist es eigentlich seine Aufgabe, Optimismus zu verbreiten. Doch manchmal fällt das selbst dem in einer Arbeitersiedlung in Glasgow aufgewachsenen Schotten schwer. So liegt Bosnien unter den Staaten des EU-Balkan-Stabilitätspaktes auf dem vorletzten Platz. Nur Moldawien hat schlechtere wirtschaftliche Daten. "Wenn Bosnien eine natürliche Person wäre, wäre das Land heute schon bankrott", formuliert Sullivan etwas umständlich das, was selbst Wirtschaftslaien nach einem kurzen Blick auf die Statistiken sofort auffällt. Ohne Hilfe von außen ist Bosnien weiterhin nicht lebensfähig.
Ohne Hilfe von außen
nicht lebensfähig
Die privaten Investitionen etwa betragen nur ein Zehntel von dem, was Betrieben in Kroatien an operativem Kapital zur Verfügung steht. Das Nachbarland ist nach der Aufnahme Sloweniens im Mai nächsten Jahres der aussichtsreichste EU-Kandidat unter den früheren Teilrepubliken des sozialistischen Jugoslawiens. Das bosnische Außenhandelsdefizit lag in der ersten Hälfte dieses Jahres bei fast einer Milliarde Euro, mit Exporten von nicht einmal 400 000 Euro. Jeder Zweite zwischen Mostar und Doboj hat offiziell keine Arbeit. Weitgehend vergeblich wartet man auf zahlungskräftige ausländische Investoren, nicht nur in der moslemisch-kroatischen Föderation.
In der serbisch dominierten Republika Srpska, der kleineren der beiden beim Dayton-Friedensschluss 1995 geschaffenen bosnischen Entität, sieht die Lage sogar noch schlechter aus. Hier liegt das monatliche Durchschnittseinkommen unter 200 Euro.
OHR-Sprecher Sullivan, der das Land seit seiner Zeit als Kriegsreporter für die australische Nachrichtenagentur United Press International (UPI) kennt, lässt trotzdem nicht locker: "Wenn ich die frisch sanierten Hochhäuser hier sehe, die 1993 noch Scharfschützen als Schießstand dienten, kann ich gar nicht anders, als mich zu freuen". Sullivan beharrt darauf, dass in den vergangenen acht Jahren erhebliche Fortschritte gemacht worden seien. Für einen Abzug der Protektoratsbehörde allerdings, wie sie seit dem Sommer vor allem von einheimischen Politikern gefordert wird, sieht er die Zeit noch nicht gekommen. "Zuerst müssen die Parlamente jene Gesetze verabschieden, die Bosnien unwiderruflich auf den Weg in die Europäische Union bringen."
Fortschritte, aber kein Abzug der Protektoratsbehörde
Die Behörde des EU-Außenkommissars Chris Patten arbeitet derzeit an einer Studie, die Bosniens Voraussetzungen für ein Stabilisierungs- und Assozierungsabkommen mit der EU prüft. Ganz oben auf der Liste steht dabei die Einführung einer einheitlichen Mehrwertsteuer. Doch abgesehen davon, dass völlig ungewiss ist, ob Bosnien die strengen Kriterien erfüllen kann, bilden auch diese Abkommen erst die Vorstufe zu einer späteren Aufnahme in die Union - ähnlich den Europa-Verträgen, die Anfang der neunziger Jahre mit den heutigen osteuropäischen Beitrittsländern abgeschlossen wurden. Darüber hinaus müssen die geplanten Verträge von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden, was Jahre dauern wird. Länger jedenfalls, so viel ist heute schon sicher, als das ehrgeizige Datum 2009.