Seit Kriegsausbruch sind mehr als zehn Millionen Ukrainer geflüchtet, ins Ausland oder innerhalb des Landes. Diejenigen, die bleiben, haben dafür die unterschiedlichsten Gründe.
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Nicht, dass es die Ukraine in Friedenszeiten immer leicht gehabt hätte; aber wenn einem die Leute in derartigen Scharen davonlaufen wie heute im Krieg, dann hätte jedes Land der Welt schnell einmal ein Problem. In Friedenszeiten zählte die Ukraine rund 44 Millionen Einwohner. Seit dem Beginn der russischen Invasion Ende Februar werden es täglich weniger. Gemäß den aktuellen Schätzungen des UNO-Flüchtlingshochkomissariats haben bisher 4,2 Millionen das Land verlassen. Die meisten Richtung Polen, Rumänien und Moldawien. 350.000 Ukrainer sind mal mehr, mal weniger freiwillig nach Russland ausgewandert. Weitere 6.5 Millionen sind sogenannte "Internally Displaced Persons" (IDPs), Menschen, die aus ihren Häusern und Wohnungen geflüchtet sind oder von dort vertrieben wurden und anderswo im Land untergekommen sind. Während ersterer Gruppe in den Aufnahmeländern und in Westeuropa eine Welle der Hilfsbereitschaft und der medialen Aufmerksamkeit entgegenschlägt, tun sich die Mitglieder der zweiten deutlich schwerer, Gehör für ihre Probleme zu finden.
Die Ursachen dafür scheinen allem voran in einem traditionellen Rollenbild der Geschlechter verankert zu sein. Beim Großteil jener, die heute über die westlichen Außengrenzen der Ukraine strömen, handelt es sich um Menschen, die traditionell als schutzbedürftiger angesehen werden als andere: Frauen und Kinder. Weil es die ukrainische Regierung allen Männern im wehrfähigen Alter verboten hat, das Land zu verlassen, sitzen heute Millionen Väter, Brüder, Großväter, Onkel, Verlobte und Freunde im Land fest. Viele davon freiwillig, manche unfreiwillig.
Vera Bolgarova blieb
Letzteres zuzugeben fiele freilich keinem von ihnen ein. Der inoffizielle Preis, den korrupte ukrainische Grenzbeamte verlangen, damit sie einen erwachsenen Mann durchlassen, lag nach übereinstimmenden Aussagen von einem halben Dutzend Einwohnern der Stadt Odessa, denen entsprechende Fälle persönlich bekannt sind, bei 6.000 Dollar.
Es gibt aber auch ukrainische Männer und Frauen, die geblieben sind, obwohl sie das nötige Kleingeld zum Auswandern hätten oder Freunde und Verwandte im Ausland haben, bei denen sie unterkommen würden.
Eine, die trotz der Gefahr, dass jeden Moment eine russische Rakete oder Bombe ihr Zuhause zerstören und sie und ihren Adoptivsohn töten könnte, keinen Moment daran gedacht hat, ihre Heimat zu verlassen, heißt Vera Bolgarova. Vera ist 63 Jahre alt. Sie lebt in einem kleinen Haus in einem östlichen Vorort von Odessa, das ringsherum von im Stil des spätsowjetischen Brutalismus errichteten Sozialwohnbauten umgeben ist.
Vera bekommt viel Besuch dieser Tage. In ihrer Küche duftet es den halben Tag über nach schwarzem Tee und frischen Mehlspeisen. Während des gesamten Gesprächs wirkt sie gefasst, sichtlich darauf bedacht, keine Zahlen, Daten, Fakten durcheinander zu bringen.
Wie es derweil in ihrem Inneren ausschaut, lässt sich nur erahnen. Der Grund, warum Vera hier bleibt, liegt allem voran in der Loyalität und der Sorge um ihren Mann begründet. Leonid Bolgarov ist 64 Jahre alt und arbeitet als Pastor einer kleinen protestantischen Gemeinde von Odessa.
Ende Februar bestieg Leonid gemeinsam mit drei anderen Männern im Hafen der Stadt ein Schiff. Ihre Namen: Oleksandr Chokov, Vasiliy Verozub und Ivan Tarasenko. Während die ersten zwei ebenfalls Männer des Glaubens sind, wenn auch von anderen christlichen Kongregationen, arbeitet Tarasenko als Arzt. Ihre gemeinsame Mission: Die Bergung der Leichen von 13 Grenzschützern auf Zmiiny Island ("Schlangeninsel") - jenes dem ukrainischen Festland vorgelagerten Eiland, von dem zu Beginn der russischen Invasion jener Funkspruch abging, der fortan weltweit die sozialen Medien in Flammen setzte und einem in der heutigen Ukraine unentwegt auf Plakaten, Postern, Flaggen und Bannern begegnet: "Russian warship, go f*** yourself."
Kein Lebenszeichen mehr
Zu jenem Zeitpunkt, an dem die vier ablegten, konnte keiner von ihnen wissen, dass die 13 auf der Schlangeninsel stationierten Grenzschützer nicht tot, sondern von den russischen Besatzern gefangen genommen worden waren. Das letzte Mal, dass Vera Leonid von Angesicht zu Angesicht sah, war, als er am 25. Februar das Haus verließ: "Ich wusste nicht, wohin er ging. Er hat es mir nicht gesagt. Nur, dass er gehen muss, um unseren Jungs zu helfen."
Laut Vera hat Leonid, mit dem sie zwei erwachsene Töchter und einen Sohn großgezogen hat und jetzt für ihren minderjährigen Adoptivsohn sorgt, mit der seelischen Betreuung von Soldaten reichlich Erfahrung. Seit 2014 sei er regelmäßig in den Donbass gereist, jener traditionell von russischsprachigen Ukrainern bewohnten Region im Osten des Landes, wo heute die heftigsten Kämpfe toben.
"Ich habe mir nicht wirklich Sorgen gemacht. Erst, als am nächsten Tag der Anruf kam", sagt Vera. Leonid fasste sich kurz. Sein Schiff sei von einem Boot der russischen Marine gestoppt und festgehalten worden. Ihm und den anderen gehe es den Umständen entsprechend gut. Er melde sich wieder, sobald es die Situation zulasse. "Das hat er auch getan, am nächsten Tag. Aber das war ein noch kürzeres Telefonat, und ich habe sofort heraus gehört, dass etwas nicht stimmt."
Es sollte das bis heute letzte Mal sein, dass Vera Bolgarova von ihrem Mann ein Lebenszeichen erhielt - abgesehen von einem Bericht des lokalen russischen Staatsfernsehens auf der besetzten Krim, das über die Festnahme der vier Männer berichtete und von ihrem Transport auf die Halbinsel, wo sie nunmehr im Gefängnis säßen. Was folgte, war eine Tortur, die bis heute andauert. Die Wochen seit dem Verschwinden von Leonid verbrachte Vera damit, alle möglichen informellen Kanäle auszuschöpfen, die sie konnte.
Als Frau eines Pastors konzentrierte sie sich vor allem auf ihre Religionsgemeinschaft und die anderer christlicher Organisationen, die auch auf der Krim Mitglieder haben. Bisher ohne Erfolg: "Alles, was wir über ihn und die anderen zu hören bekommen, sind Gerüchte." Das letzte davon sei ihr erst diese Woche zu Ohren gekommen: Angeblich würde Leonid von seinen Wärtern mental und körperlich gefoltert.
Offizielle Regierungsstellen in Kiew und Odessa hätten ihr bei ihren bisherigen Nachforschungen nur wenig geholfen: "Ein paar Mal hieß es, dass Leonid und die anderen gegen russische Gefangene ausgetauscht werden sollen. Aber daraus ist bis heute nichts geworden", sagt Vera.
Ein Verdienstorden
Bittere Ironie der Geschichte: Während ihr Mann und die anderen drei, die sich auf dem Schiff befanden, bis heute in der russischen Gefangenschaft schmoren, sind jene, deren Körper sie bergen wollten, längst wieder frei. Roman Hrybov, jener Grenzschützer, der dem russischen Kriegsschiff gefunkt hatte, dass es sich verp*** soll und seine zwölf Kameraden wurden vergangene Woche im Rahmen eines auf höchster Ebene ausverhandelten Abkommens gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht. Hrybov, der aus der am unteren Djnepr-Verlauf liegenden Provinzstadt Cherkasy stammt, bekam vom dortigen Gouverneur einen Orden für seine außerordentlichen Verdienste ums Vaterland.