Der russische Exil-Ökonom Sergej Gurijew über die russische Wirtschaft, ihre Modernisierung und das Ende der Propaganda.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung:" Welche wirtschaftlichen Folgen hatte die Annexion der Krim für Russland?Sergej Gurijew: Drei Arten von Problemen sind seither aufgetaucht. Einerseits wurden direkte Aufwendungen notwendig, etwa für Pensionen oder die Wiedereingliederung der Krim. Diese sind aber - im gesamtrussischen Vergleich - nicht groß. Das zweite Problem sind die gegen Russland verhängten Sanktionen, die vor allem relevant sind, weil gleichzeitig auch der Ölpreis gefallen ist und es für Russland gut wäre, im Ausland Geld aufnehmen zu können. Das geht aber wegen der Strafmaßnahmen nicht. Drittens bereitet die Änderung des Verhältnisses gegenüber Russland Probleme, die zunehmende Isolation und die Einsicht darüber, dass die russische Führung nicht an einem langfristigen wirtschaftlichen Wachstum interessiert ist. Das führte zu einem beispiellos starken Kapitalabfluss aus Russland. Insgesamt entstand mit der Krim eine irreversible Änderung, seit der die Situation eine völlig andere ist.
Was können wir von der russischen Wirtschaft nach all diesen Änderungen erwarten?
Die Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr um drei bis vier Prozentpunkte sinken, sollte sich nichts ändern. 2016 wird sich die Rezession fortsetzen. Die Regierung wird weiterhin die Mittel der Reservefonds ausgeben und Ende nächsten Jahres werden sie vollständig erschöpft sein. Heuer und im nächsten Jahr werden die Realeinkommen sinken. Was 2017 sein wird, ist völlig offen. Steigt der Ölpreis nicht, dürfen wir nichts Gutes erwarten.
Was passiert, wenn die staatlichen Reservefonds erschöpft sind?
Man muss die Staatsausgaben kürzen, was sehr schwierig ist. Sie werden auch jetzt gekürzt, aber in dem Fall würden viele, bedeutendere Einsparungen fällig, die natürlich Widerspruch und Einwände in der Bevölkerung auslösen würden - aber auch bei den Freunden Putins und Mitarbeitern der Sicherheitsstrukturen und staatlicher Firmen. Dann muss man auswählen, wo man die Popularität Putins opfert.
Sie sprechen die geplanten zehn-prozentigen Gehaltskürzungen bei bestimmten Beamtengruppen an. Wirkt sich das auf die Korruption in Russland aus?
Die Korruption in Russland ist weniger einkommensabhängig, als vielmehr durch die Abwesenheit von politischer Konkurrenz bedingt und der Abgeneigtheit der Führung, sie zu bekämpfen.
Aber man hört immer wieder von Fällen, in denen russische Beamte wegen Korruption angeklagt werden. Kürzlich wurde etwa der Gouverneur von Sachalin diesbezüglich verhaftet, genauso wie ein hochrangiger Beamter im Verteidigungsministerium.
Zweifellos gibt es Verhaftungen von korrupten Beamten und das ist wichtig, aber den hochrangigsten Korrupten passiert trotzdem nichts. Daher ist es nicht notwendig, anzunehmen, dass es sich um einen wahren Kampf gegen die Korruption handelt.
Wie beurteilen Sie die bisherige Anti-Krisen-Politik in Russland?
Insgesamt ist sie darauf ausgerichtet, keine Unzufriedenen hervorzurufen, damit die Menschen nicht auf die Straße gehen. Solange es die Reserven gibt, kann man das auch tun. Es gibt, wie angesprochen, Kürzungen, aber diese sind relativ geringfügig.
Wie würden Sie insgesamt die Wirtschaftspolitik des Präsidenten Wladimir Putin beschreiben?
Die Strategie der russischen Führung ist in erster Linie auf Machterhalt ausgerichtet, nicht auf Entwicklung. Deswegen kann Putin keine Reformen durchführen, die den Unternehmen zugutekommen, denn das unterminiert die Macht seiner wichtigsten Unterstützer bei den Sicherheitsorganen und staatlichen Firmen. Andererseits versteht er, dass er gemäß seinen Mitteln leben muss, da ihm sonst das Geld ausgeht. Er versucht hier zu balancieren. Und bisher besteht sein Plan darin, zu warten, bis der Ölpreis wieder steigt.
Manche meinen, die russische Wirtschaft hätte in den vergangenen Jahren aufgeholt, viele Manager haben im Ausland studiert, es gibt Joint Ventures mit ausländischen Firmen, von deren Know-How man profitierte. Andere sagen, all das Gerede um Modernisierung sei eben nur Gerede. Wie modern ist die russische Wirtschaft heute?
Teilweise ist sie modernisiert. Es ist nicht mehr die sowjetische Wirtschaft, sie ist viel flexibler, es gibt viele wettbewerbsfähige Firmen. Aber jetzt gerade stagniert alles, die Situation ist wirklich schwierig. Die Menschen bevorzugen es, Geld abzuziehen, da es für moderne Unternehmen wenig Perspektiven gibt.
Wie kommen die russischen Firmen mit der Rückzahlung der immens hohen Auslandsschulden zurecht angesichts des gefallenen Rubels?
Hier spielt die Zentralbank eine Schlüsselrolle, die aus ihren Reserven russischen Banken Geld borgt, die wiederum den Firmen Kredite geben, mit denen diese ihre Schulden begleichen können. Neue Schulden aufnehmen wird aber nicht möglich sein. Für die nächsten beiden Jahre werden die Reserven der Zentralbank zweifellos ausreichend sein.
Seit 1. Jänner ist die Eurasische Wirtschaftsunion in Kraft, der neben Russland auch Weißrussland, Armenien, Kasachstan und bald auch Kirgisistan angehören. Kann diese die Wirtschaft stimulieren?
Ja, aber der Einfluss ist sehr beschränkt. Die Märkte der anderen Länder der Union sind, verglichen mit dem russischen, sehr klein. Für kirgisische oder weißrussische Firmen ist das natürlich ein wichtiger Schritt vorwärts, für Russland nicht so sehr.
Gefährdet die aktuelle Wirtschaftskrise die politische Führung?
Früher oder später wird die Propaganda aufhören zu wirken, und die Menschen werden erkennen, dass Putin weder eine Vision zur Entwicklung des Landes hat, noch den Wunsch oder das Können, die Wirtschaft weiterzuentwickeln. Und das ist ohne Frage die größte Bedrohung für Putin. Genau deswegen sind jetzt Propaganda, Zensur und die Repressionen so wichtig, denn auf diese Weise sichert man nun die eigene Legitimität.
Sehen Sie Anzeichen, dass die Propaganda aufhört, zu wirken?
Früher oder später muss das passieren, spätestens, wenn die Menschen in ihren Geldtaschen merken, dass etwas nicht stimmt. Die jetzige Propaganda ist beispiellos und es ist durchaus möglich, dass das noch lange Zeit dauert. Aber es wird passieren. Wie Lincoln sagte: Man kann eine Zeit lang ein ganzes Volk betrügen, man kann immer ein paar betrügen, aber man kann nicht ständig alle belügen und betrügen.
In der Liste der größten russischen Firmen dominieren die Öl- und Gasfirmen. Der Ölpreis ist stark gefallen, der Rubel aber auch und die Öleinnahmen werden in Dollar erzielt. Wie geht es den wichtigsten Firmen Russlands aktuell?
Sorgen muss man sich nicht um diese Firmen machen, sondern um das Staatsbudget und das Bankensystem. Das sind die größten Probleme heute.
Der russische Staat greift ausgewählten Firmen unter die Arme. Ist das gerechtfertigt oder gefährlich?
Einerseits kann man das natürlich tun, wenn das Unternehmen systemrelevant ist. Auch in anderen Ländern wird das gemacht. Andererseits wird aber anderswo, wenn eine Firma Staatshilfen bekommt, die Führungsebene ausgewechselt. In Russland ist das nicht der Fall. Die russischen Steuerzahler zahlen, aber am Ruder bleiben die gleichen.
Sie sind 2013 aus Russland ausgewandert. Die vergangenen beiden Jahre haben es Ihnen sehr viele Russen gleichgetan. Was sind die Beweggründe?
Ich glaube, die Russen verstehen, dass in den nächsten Jahren ein Regimewechsel in Russland ansteht, und der kann sehr turbulent und gewaltsam ausfallen. Ich selbst bin aus Sorge um meine Sicherheit emigriert. Nicht, dass ich Angst gehabt hätte, dass man mich ermordet, aber es war sehr wahrscheinlich, dass man mich ins Gefängnis steckt. Nach all dem, was ich in letzter Zeit beobachte, finde ich, dass mein Schritt eher richtig als falsch war.
Sie sind ein Russe, der im Westen lebt. Versteht der Westen Russland?
Ich finde nicht besonders, muss aber sagen, dass sich das zunehmend ändert. Anfangs gab es sehr gute Beziehungen zu Russland, und diese wurden auf das Regime übertragen. Heute versteht man viel besser, dass das Regime und die Gesellschaft zwei verschiedene Dinge sind. Der Westen hat begriffen, dass man gegen das Regime, gleichzeitig aber für das Land sein kann.
Zur Person
Sergej Gurijew
Der 1971 in Wladikawkaz, Russand, geborene Ökonom ist Wirtschaftsprofessor an der Sciences Po in Paris. Vor seiner Flucht nach Frankreich 2013 war er Rektor der New Economic School Moscow. Gurijew war Teil eines unabhängigen Expertenpanels, das den Fall rund um den Öltycoon Michail Chodorkowskij untersuchte und Ende 2011 zu dem Schluss kam, dass Chodorkowskijs Verfolgung unfair und gesetzwidrig war. Der "New York Times" berichtete Gurijew von erniedrigenden und Furcht einflößenden Verhören rund um die damalige Arbeit. Als Behörden private Dokumente beschlagnahmten, verließ er Russland. Gurijew spricht am Donnerstag beim Spring Seminar des Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW).
wiiw Spring Seminar 2015
Options against an unravelling Europe
26. März 2015
Anmeldung: wiiw.ac.at/e-241.html
<!--
[if gte mso 9]><![endif]
--><p style="line-height:150%" class="MsoNormal">
<!--
[if gte mso 9]><![endif]
-->
<!--
[if gte mso 10]>
<![endif]
-->