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"Welcome" grüßen die irakischen Posten am Grenzübergang Qadissiya-Complex. Und lächeln. Wenn man von Jordanien aus, nach monoton endloser Fahrt durch die Ash-Sham-Wüste, in den "Schurkenstaat" einreist, sind die Baracken des Kontrollpunktes überraschenderweise so etwas wie eine Oase der Freundlichkeit.
Ein Sicherheitsoffizier bittet zum Tee ins Separee. Erzählt von seiner Familie: "Ich habe neun Kinder, darunter sechs Buben. Iraker brauchen kein Viagra." Vielleicht ist er nur freundlich, weil er sich in den leeren Hallen langweilt. Oder damit während der ablenkenden Unterhaltung drinnen am Wagen draußen das Gepäck der Reisenden durchsucht werden kann. Ein positiver Eindruck bleibt.
Und er verstärkt sich in Bagdad. Was Gastfreundschaft und höflichen Umgangston anlangt, ist der Irak alles andere als das "Reich des Bösen". In zehn Tagen erlebt der Autor nur einmal eine harmlos irritierende Situation. In einer Teestube am Tigris wagen es drei Halbwüchsige - ihre Absprachen vorher sind gut zu beobachten - aus dem Spender des Ausländertisches ein Glas Wasser zu zapfen. Und trinken es dann neben den potentiellen Amerikanern mutig auf ex.
Ansonsten sieht es schlimm aus. Nach zwei Kriegen in zwölf Jahren befindet sich der zuvor im Nahen Osten für seine Modernität gepriesene Wohlfahrtsstaat im Zustand eines Entwicklungslandes. Bagdad ist eine heruntergekommene Stadt. Ein Zentrum sucht man vergeblich. Häuserreihen sind zerbombt. Viele der schrottreifen Fahrzeuge haben Einschüsse in den Kotflügeln. Es stinkt nach Müll. Bürgersteige sind aufgerissen für Bauarbeiten, die nicht fortgeführt wurden. Oder sollen Schützengräben werden, die man womöglich bald braucht. Das ehemalige Sheraton-Hotel, berühmt für spektakuläre Bombardement-Bilder, die CNN vom Hoteldach während des Golfkrieges sendete, ist nicht viel mehr als die Kulisse einer martialischen Erinnerung. Mäuse in maroden Suiten. Ein verstimmtes Klavier und auch am Tag zugezogene Vorhänge in der Cafeteria. Kein internationaler Telefonverkehr. Beschränkter Internetzugang in einer Katakombe gegenüber. Dazu das im Irak geltende Verbot von Mobiltelefonen.
All das vermittelt ein Gefühl extremer Weltferne. Ali, der "Betreuer" vom Ministerium für Information und Kultur, bestätigt: "Wir leben in großer Isolation!" Dann klopft er allerdings Propagandasprüche: "Wer ist Schuld an unserer Misere? Wir haben alle Resolutionen erfüllt. Was will man noch? Die UNO ist nur eine willfährige Marionette der USA und Großbritanniens." Ist es Vorsicht oder Wut, die ihn so reden lässt? Auch letzteres wäre verständlich. Seit der Verhängung des Wirtschaftsembargos im August 1990 ist es vor allem die Zivilbevölkerung, die unter den Sanktionen leidet. Auch die Lockerung der Verbote 1996 hat nicht zu einer wesentlichen Verbesserung der Lage geführt. Seitdem darf der Irak im Rahmen des "Oil-for-Food"-Programms Öl im Wert von 5 Milliarden US-Dollar exportieren, um dafür Nahrungsmittel und Medikamente zu kaufen.
Bei weitem nicht genug! Nach Angaben von Unicef hat sich die Zahl der irakischen Kinder, die vor dem fünften Lebensjahr sterben, in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Pro Person und Tag sehen die Lebensmittelrationen 2230 Kilokalorien vor. Verteilt werden Hülsenfrüchte, Reis, Weizen, Zucker, Salz, Öl, Tee und Milchpulver. Wegen fehlender Kühlkapazitäten jedoch keine Frischwaren wie Fleisch, Fisch und Käse. Die Folgen sind Mangel- und Unterernährung. Vor allem das Immunsystem von Kindern und alten Menschen ist geschwächt. Fatal wirken zusätzlich schlechtes Trinkwasser und die allgemein katastrophalen hygienischen Verhältnisse.
"Wir kämpfen ums Überleben. Manche Kinder gehen nicht mehr zur Schule. Ingenieure, Beamte, Künstler haben Zweit- und Dritt-Jobs. Satteln um auf Taxifahrer oder Markthändler. Verkaufen Kleinkram und ihr Familiensilber", gesteht selbst der stolze Regierungsangestellte Ali irgendwann kleinlaut.
Monatlich 15.000 Dinar - umgerechnet rund 7 US-Dollar - verdient im Irak derzeit ein Lehrer. Als Offizier erhält man das Sechsfache. Für ein ansprechendes Leben reicht auch das nicht.
Issam, ein Kellner im Sheraton-Hotel, hatte Glück. Ende Oktober ließ ein BBC- Reporter an der Bar seine Reisetasche stehen. Inhalt: neben Flugtickets und Kreditkarten auch 9.000 US-Dollar. Issam entdeckte die Tasche, bewahrte sie auf und erhielt von dem Engländer am Ende 50 USD Finderlohn. Man kolportierte die Geschichte Saddam und der stiftete seinem Untertan für dessen verantwortungsvolle Ehrlichkeit 9.000 US-Dollar. Auf die Frage, was er mit dem Geld machen wird, zögert Issam keine Sekunde. Strahlend baut sich der kleine Mann mit der riesigen Brille vor der Bar auf und verkündet: "Ich werde mir eine zweite Frau nehmen. Das wollte ich schon lange. Aber es war zu teuer. Allein die Hochzeit kostet mindestens 500 Dollar".
Zu heiraten bleibt für Iraker ein Lebensvergnügen, dem die Vorkriegsstimmung bisher nichts anhaben kann. Der Staat bezahlt Neuvermählten zwei Nächte im Hotel. Und so tanzen und singen riesige Familienverbände Nacht für Nacht auf den Hotelparkplätzen. Manchmal dauert der fröhliche Lärm bis drei Uhr nachts. Morgens im Lift drängen sich dann verlegene Paare. Nach dem Liebesritual haben die Mädchen zerstachelte Gesichter und halten sich am zusammengefalteten Schleier fest. Die jungen Männer blicken sehr ernst und wirken dabei ein wenig lächerlich.
Erschreckend ist die Präsenz des Diktators im Stadtbild. In erstaunlich vielfältiger Pose und Kleidung blickt er überall von den Wänden. Die Parolen daneben verkünden die immergleiche Botschaft: "Für dich Saddam. Wir opfern dir Seele und Blut. Nieder mit den Amerikanern!" Das Al-Rashid-Hotel Bagdad betritt man gar über ein großes, in den Boden eingearbeitetes Stein-Mosaik, das Ex-Präsident George Bush darstellt. Aufschrift am Rand: "Bush ist ein Verbrecher".
Unter der monströsen Oberfläche des irakischen Lebens aber hört man Alltägliches. Nachvollziehbare Nöte. Ali zum Beispiel, der abgestellte Ausländer-Aufpasser, wirkt eines Tages noch nervöser als sonst. Auf mehrmalige Nachfrage erzählt er schließlich, dass sein Bruder zufällig einen Taschendieb beobachtet hatte, der einer Frau die Handtasche entriss. Er lief ihm nach und übergab ihn der Polizei. Ali berichtet: "Der Dieb war 16 Jahre alt und wurde zu einem Jahr Jugendhaft verurteilt. Lässt er sich danach noch etwas zu schulden kommen, muss er für unbestimmte Zeit ins Gefängnis. Seine Familie fand inzwischen heraus, dass mein Bruder ihn erwischt hat und will sich rächen. Wir machen uns große Sorgen." Auch das ist der Irak. Kriminell in ganz anderem Sinne.
Über allem aber schwebt die Angst vor dem möglichen Krieg. Jeder Wehrpflichtige weiß genau, wohin er eingezogen wird. Patriotische Pflichterfüllung? Sicher. Doch die Sorge um Frauen und Kinder ist mindestens ebenso stark. Ali, der mit dem typischen Schnauzbart aussieht, wie sein oberster Dienstherr, äußert seinen Frust am Ende der "Betreuungstage" bemerkenswert offen:
"Dieses Ausharren macht uns alle krank. Mehr oder weniger. Ich habe kaum noch Energie, irgend etwas zu beginnen. Wozu, wenn es morgen losgeht? Und meine Frau klagt ständig über Kopfschmerzen. Nachts schreckt sie hoch, wenn eine Autotür knallt. Sie denkt dann, die ersten Bomben fallen."