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Warten oder handeln?

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Menschen wollen recht haben, aber nur gleichzeitig mit allen anderen. Daher schieben sie ihr Handeln auf, bis die Krise sie mit voller Kraft trifft.


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Charles Peters, der Herausgeber von "Washington Monthly", jener Zeitschrift, bei der ich begonnen habe, warb mit folgendem Slogan um Leser: "Wenn zu früh recht haben Sie nicht ängstigt." Aber natürlich haben alle Angst davor, zu früh recht zu haben. Nicht im Gleichschritt mit der Herde zu sein, ist eine schlechte Strategie. Es wirkt habgierig, von seinem Verstand zu profitieren, während andere unter den Folgen der eigenen Dummheit leiden.

Menschen wollen recht haben, aber nur gleichzeitig mit allen anderen. Daher schieben sie ihr Handeln auf, bis die Krise sie mit voller Kraft trifft. Nehmen wir das Beispiel Goldman Sachs, den Sündenbock der Woche: Warum warteten sie nicht, wie die Leute von Lehman Bros.? Die Herde galoppiert aus einem einfachen Grund auf den Abgrund zu: Es ist unpopulär, einen anderen Weg zu nehmen. Man ist sonst einsam.

Nehmen wir als weiteres Beispiel die Steuerpolitik, durch die man das nächste große Finanzdesaster der USA verhindern könnte, nämlich das sich aufblähende Staatsdefizit: Eine Mehrwertsteuer wäre die vernünftige Antwort darauf, sagen viele Ökonomen. Politiker haben aber einen Horror davor, zu früh recht zu haben. Der Senat nahm daher mit 84 zu 13 Stimmen eine Resolution an, die die Mehrwertsteuer als "massive Steuererhöhung, die Familien mit festem Einkommen schweren Schaden zufügen wird", bezeichnet. Jetzt wird die Schuldenkrise, wenn sie kommt, noch größeren Schaden anrichten. Und dann wird jeder lautstark für eine Mehrwertsteuer sein.

Ein besonders gefährliches Beispiel dieses Gesetzes politischer Untätigkeit ist die griechische Schuldenkatastrophe. In den USA schenkt man der Angelegenheit nicht viel Aufmerksamkeit - Europa ist ja weit weg. Aber auf den Finanzmärkten wird es langsam schaurig. Die verschwenderischen Griechen geben weit mehr aus, als sie produzieren, und nehmen Kredite auf, um das auszugleichen. Deutsche Politiker haben zwar das Geld, lassen sich aber Zeit, die Krise zu lösen, weil sie wissen, dass es nicht sehr populär ist, den Griechen aus der Klemme zu helfen. Und das, obwohl sie gleichermaßen wissen, dass dadurch die Finanzen der gesamten EU kollabieren könnten.

Als Folge wächst die Panik in der Finanzwelt. Man wettet darauf, dass Griechenland konkursreif ist. Und während das Schulden-Chaos in Europa immer mehr Staaten erfasst, warten die deutschen Politiker in aller Seelenruhe auf einen sicheren Konsens. "Griechenland ist die Subprime-Krise Europas", titelte Wolfgang Munchau in seiner Kolumne in der "Financial Times". Der Chef eines führenden Hedgefonds warnte die Investoren vorige Woche in einem Schreiben, er sehe als Ergebnis der sich ausweitenden Krise "einen möglichen Zusammenbruch der Europäischen Währungsunion".

Es ist Ironie des Schicksals, dass wir oft zwar spüren, was auf uns zukommt, aber nichts dagegen unternehmen. Die vernichtendsten Ereignisse sind meist nicht solche, die heimlich angeschlichen kommen, sondern jene, die wir unweigerlich kommen sehen, wo aber der politische Willen fehlt zu reagieren.

Barack Obama könnte dem Defizit rechtzeitig Herr werden. Der US-Präsident könnte darauf bestehen, dass die neue überparteiliche "National Commission on Fiscal Responsibility and Reform" eine Mehrwertsteuer und andere energische Maßnahmen ernsthaft in Betracht zieht, um die Schulden bis zum Ende des Jahrzehnts einzudämmen. Aber jetzt zu handeln, wäre schlechte Politik: Obama hätte zwar recht, aber viel zu früh. Da ist es wohl besser zu warten, bis die Katastrophe näher kommt.

Übersetzung: Redaktion