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Warum Brüssels Botschaften ungehört verhallen

Von Hermann Sileitsch

Politik

Frankreichs Präsident François Hollande verbittet sich "EU-Diktat".


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Brüssel. Gleich drei Kommissare und der Präsident rückten aus, um die Botschaft unters Volk zu bringen: Die EU-Kommission wollte offenkundig unterstreichen, wie sehr ihr die wirtschaftspolitischen Empfehlungen an die Mitgliedstaaten am Herzen liegen. Begleitet wurde das Ritual von einer skurrilen Geheimniskrämerei: Noch wenige Minuten vor dem Termin beschützten Sicherheitskräfte die vorbereiteten Pressetexte vor den Journalisten.

"Ich fühle mich wie mit 15 Jahren, als ich nicht in die Disco gelassen wurde", scherzte die Korrespondentin einer US-Zeitung. Ganz klappte die Geheimhaltung dann doch nicht: Via Twitter ließen Industriekommissar Antonio Tajani und Sozialkommissar Laszlo Andor ihre Heimatländer Italien und Ungarn aus der internen Kommissionssitzung am Mittwochnachmittag vorab wissen, dass sie ohne gröbere Schelte davonkommen werden.

"Europäischer Konsens"

"Europa braucht einen Konsens darüber, welche Politik sowohl für die Union, als auch für jeden einzelnen Mitgliedstaat richtig ist", plädierte Kommissionschef Jose Manuel Barroso. Ein frommer Wunsch nach Geschlossenheit - aber wenig realistisch. Denn trotz ihrer peniblen Vorbereitung steht die EU-Kommission mit ihrer Botschaft auf verlorenem Posten.

Die Kommission will eine ausgewogene Wirtschaftspolitik vermitteln, mit der die Krise, das Konjunkturtief und die Rekordarbeitslosigkeit überwunden werden soll. Es ist eine heikle Gratwanderung zwischen budgetärer Lockerung und Disziplin, zwischen Sparvorgaben und Krisenbekämpfung. Mehr als sonst betont Brüssel die Notwendigkeit von Strukturreformen, um das Wachstum anzukurbeln.

Warum dringt sie damit nicht durch? Ein Grund ist banal, aber gravierend: Mit fast hundert Dokumenten und mehr als tausend Seiten an Empfehlungen für die 27 Länder überfordert die EU-Exekutive die Medien ebenso wie das Publikum. Journalisten konzentrieren sich unter Zeitdruck auf möglichst knallige Schlagzeilen.

Der zweite Grund: Die Empfehlungen sind für die Länder unangenehm, das liegt in der Natur der Sache. Sie treffen wunde Punkte; Vorhaben, die von den nationalen Regierungen oft Jahre hindurch auf die lange Bank geschoben wurden. Deshalb treffen sie traditionell auf wenig Widerhall und viel Kritik. Für einen Eklat sorgte Frankreichs sozialistischer Präsident François Hollande - er verbat sich die Einmischung aus Brüssel mit scharfen Worten: "Die EU-Kommission kann uns nicht diktieren, was wir zu tun haben. Sie kann nur sagen, dass Frankreich seinen Haushalt ausgleichen soll." Der Anlass für Hollandes Groll: Die Kommission hatte Paris unter anderem dazu ermahnt, eine Pensionsreform in Angriff zu nehmen und mehr zu tun, damit die Unternehmen wieder konkurrenzfähig werden. "Frankreich hat in den vergangenen 10, vielleicht sogar 20 Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren", sagte Barroso. Als Gegenleistung für zwei zusätzliche Jahre beim Sparen müssten die Arbeitskosten sinken und Energie- oder Dienstleistungsmärkte für mehr Wettbewerb geöffnet werden. Nicht nur für Frankreich hatte die Kommission Zumutungen parat: Die Aufforderung an Deutschland, den Inlandskonsum mit höheren Löhnen anzukurbeln, stößt bei der Bundesregierung in Berlin nicht nur auf Gegenliebe.

Der dritte Grund, warum die EU-Botschaften oft ungehört verhallen, ist die hysterische Art, in der die Debatte "Austerität versus Wachstum" mittlerweile geführt wird. Für die lautstärksten Proponenten ist diese zur Glaubensfrage geworden, in der nur Schwarz oder Weiß, Befürworter oder Gegner zugelassen werden. Jede Differenzierung bleibt auf der Strecke. Dabei ist der vermeintliche Gegensatz "Sparen oder Wachstum fördern" Schwachsinn. Die Staaten müssen effizienter werden und am richtigen Fleck sparen, um sich Investitionen in wachstumsfördernde Maßnahmen leisten zu können: Das versucht die Kommission zu vermitteln.

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Barroso hat deshalb recht, wenn er die Austeritätsdebatte "unnütz und teilweise sogar kontraproduktiv" nennt. Das ändert aber nichts daran, dass jede Fraktion das findet, was sie sucht: Den Spar-Hardlinern ist es ein Dorn im Auge, dass sechs Länder, darunter Frankreich und Spanien, mehr Zeit erhalten, um ihre Defizitziele zu erreichen. Der Vorwurf: Die Kommission weicht ihre Vorgaben immer mehr auf.

Bestätigt fühlt sich auch die andere Seite: Die Kommission begünstige mit ihren Budgetvorgaben ein "Kaputtsparen" und würge das Wachstum ab.

Gut austarierter Politmix

Dabei ist die Politik der Kommission bei näherem Hinsehen erstaunlich ausbalanciert. Sie beinhaltet zwar tendenziell konservative und liberale Wirtschaftspositionen - die Staaten sind weiterhin dazu angehalten, ihre Budgetdefizite zu verringern, damit auf lange Sicht auch die Staatsschulden sinken. Die Pensions- und Gesundheitskosten sollen in Zaum gehalten werden, damit sie auf Dauer finanzierbar bleiben. Die Kommission plädiert zudem dafür, dass einige Länder ihren Arbeitsmarkt öffnen und den Kündigungsschutz lockern, damit die Unternehmen mehr junge Menschen einstellen. Die Löhne sollen auf Dauer nicht rascher steigen als die Produktivität, damit Europa wettbewerbsfähig bleibt.

Das ist aber nur die eine Seite: Umgekehrt empfiehlt die Kommission 20 Mitgliedstaaten, mehr in eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu investieren, damit Langzeitarbeitslosen der Wiedereinstieg erleichtert wird. 12 Staaten sollten die (nach österreichischem Vorbild gestaltete) "Jugendgarantie" umsetzen: Ziel ist, dass kein Jugendlicher länger als vier Monate ohne Job oder Ausbildungsplatz ist. In 21 Mitgliedstaaten wird die steuerliche Belastung der Arbeit als zu hoch empfunden, für zehn Länder gibt es sogar den expliziten Rat, diese auf Konsum-, Umwelt- oder Vermögenssteuern umzuwälzen. Eine Forderung, mit der beispielsweise die SPÖ sehr einverstanden sein dürfte.

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Zehn Länder sollen ihre Sozialsysteme verbessern oder die Hilfen besser auf jene fokussieren, die sie tatsächlich benötigen - das betrifft unter anderem Belgien, Bulgarien, Spanien, Ungarn, Polen, Rumänien und das Vereinigte Königreich.

Fast alle EU-Länder sind aufgerufen, ihr Bildungssystem zu verbessern und die Beschäftigungsquote der Frauen zu erhöhen.

Sparen, aber mit Augenmaß

Fünf Länder, gegen die Verfahren wegen übermäßiger Budgetdefizite liefen, konnten aus diesen entlassen werden: Neben Italien, Lettland, Litauen und Rumänien betrifft das auch Ungarn. Zwar hatte die Kommission früher moniert, dass die Sanierung vor allem durch Einmaleffekte und Steuern für ausländische Konzerne zustande gekommen sei. Die Kritik wurde bekräftigt, das Defizitverfahren ist dennoch beendet.

Neu dazu kommt unterdessen Malta, dessen Haushaltslücke nach derzeitigen Prognosen mit 3,6 und 3,7 Prozent auch 2013 und 2014 deutlich höher ausfallen wird, als der Vertrag von Maastricht erlaubt (3 Prozent des BIP).

Belgien, Niederlande und Portugal erhalten ein Jahr mehr Zeit, um das Defizitziel von 3 Prozent zu erreichen. Frankreich, Polen, Slowenien und Spanien dürfen sich wegen der schwächeren Konjunktur sogar um zwei Jahre mehr Zeit lassen. In Summe wird die Zahl der Länder, gegen die ein Defizitverfahren läuft, von 24 im Jahr 2011 auf nunmehr voraussichtlich 16 sinken, sagte EU-Wirtschaftskommissar Olli Rehn.

Verschärft wird das Verfahren gegen Belgien. Das Land wird an den Pranger gestellt, weil es zu wenig unternommen hat, um die Budgetlücke zu schließen. Auch ohne die kostspielige Rettung der Bankengruppe Dexia wäre die Vorgabe nicht erreicht worden. Speziell unter der interimistischen Regierung 2010 und 2011 hätten die Belgier die Zügel zu sehr schleifen lassen. Befürchten müssen sie vorerst dennoch nichts: Man könne Geldstrafen nicht rückwirkend verhängen, sagte Rehn - und die verschärften Sanktionen seien erst Ende 2011 beschlossen worden.

Das ist ein weiteres Manko der EU-Strukturen: Die Sanktionsmechanismen sind noch immer zahnlos. Die Empfehlungen der Kommission sind nämlich vorerst nur Vorschläge. Die Mitgliedstaaten müssen sie beim EU-Gipfel im Juni noch absegnen. Und trotz der jüngsten Verschärfung ist es dabei unwahrscheinlich, dass dieses Forum Strafen abnickt.

Europäisches Semester
(hes) Solange es keinen europäischen Finanzminister gibt, der den fiskal- und wirtschaftspolitischen Kurs diktieren könnte, muss die EU diesen durch ein aufwendiges Wechselspiel zwischen Kommission, Mitgliedstaaten und Rat koordinieren. Das geschieht durch einen Jahresplan ("Europäisches Semester"), bei dem die Staaten im März ihre Prioritäten fixieren. 2013 waren das wachstumsfreundliche Budgetkonsolidierung, bessere Kreditvergabe, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, Kampf gegen Arbeitslosigkeit und effizientere Verwaltung. Jedes Land legt dann in Brüssel seinen Budgetentwurf und Reformpläne vor. Die EU-Kommission definiert dann für jedes Land konkrete Zielvorgaben, die binnen 12 bis 18 Monaten erfüllbar sein sollten. Das sind die "länderspezifischen Empfehlungen" – die Kommission macht dabei nur Vorschläge, beschlossen werden diese auf dem EU-Gipfel im Juni von den Staats- und Regierungschefs. Länder unter dem Rettungsschirm erhalten keine Empfehlungen – sie sind ohnehin an die Troika-Vorgaben gebunden. Parallel dazu laufen die Verfahren über exzessive Budgetdefizite – beides gehe aber Hand in Hand, betonte Kommissionschef Jose Manuel Barroso.