Wie es möglich ist, das eigentlich Unerträgliche zu ertragen und daran zu wachsen: Die Geschichte einer Familie, die ihr Kind verlor.
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<p>Es ist paradox: Noch nie in der Menschheitsgeschichte waren wir so oft mit dem Tod konfrontiert wie heute - und noch nie so wenig. Denn während wir uns an die Leidenden und die Leichen gewöhnt haben, die uns die Fernsehnachrichten, die Zeitungen und die sozialen Medien täglich in unsere Wohnzimmer spülen, kommen wir nur noch selten in die Verlegenheit, uns mit Sterbenden in unserem Umfeld zu beschäftigen. Nicht zu Hause sterben die Menschen, sondern in Spitälern und Heimen, wo viele Ärzte den Tod als ihren Feind betrachten und versuchen, ihn so lange wie nur möglich hinauszuzögern. Oft ohne Rücksicht auf das Wohl des Patienten.<p>
Wir fürchten den Tod so sehr, dass wir uns nicht mit der Frage unserer eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen können. Denn der Tod trifft uns in unserem Innersten, er beleidigt uns in unserem Kontrollbedürfnis und unserem modernen Anspruch, unendlich konsumieren und genießen zu können.
<p>Wenn wir aber hinschauen und uns mit unserer Endlichkeit beschäftigen, kann uns das nicht nur die Angst nehmen. Vielmehr lehrt uns die Akzeptanz der Sterblichkeit auch Achtsamkeit, Demut vor dem Leben und Respekt vor den Menschen, die wir lieben und die uns nahe sind. Im Buch "Eine sonderbare Stille. Warum der Tod ins Leben gehört" (siehe Angaben Seite 34) kommen Menschen zu Wort, die sich schon lange mit dem Thema Sterben beschäftigen. Sie arbeiten im Hospiz oder Krankenhaus, sie pflegen ihre kranken Angehörigen oder sind selbst mit einer lebensverkürzenden Erkrankung konfrontiert. Es lohnt sich, diesen Menschen zuzuhören.<p>Einer dieser Menschen ist Jacqueline Weise. Ihre Geschichte wird hier in Auszügen wiedergegeben.<p>
Traurig und mutig
<p>"Beim Verabschieden drückt mir Jacqueline Weise ein kleines Gedenkbild in die Hand. Auf der Vorderseite der dunkelhaarige Babykopf, geborgen in den Händen seiner Mutter. Innen das Bild ihres Sohnes Don-Chris, das auch im Flur ihrer Wohnung hängt. Darauf sieht er wie ein zufrieden schlafender Säugling aus. Eine Freundin der Familie, die Fotografin ist, hat die Schläuche der Intensivstation wegretouchiert. Endlich ist er kabellos, hat sich Jacqueline damals gedacht. Ich nehme das Bild, stecke es vorsichtig in meine Tasche - wie einen Schatz. Ich bedanke mich, verabschiede mich, gehe auf die Straße vor dem Gründerzeithaus in einem Wiener Innenbezirk. Und breche erst einmal in Tränen aus.
<p>Drei Stunden hat sich Familie Weise Zeit genommen, um ihre Geschichte zu erzählen. Drei Mal sind mir dabei die Tränen gekommen - nie zuvor in mehr als zehn Jahren Journalismus ist mir das passiert. Die Geschichte von Don-Chris Herbert Weise und seiner Familie ist unglaublich traurig, aber sie macht auch unglaublich viel Mut. Sie zeigt, wie es möglich ist, das eigentlich Unerträgliche zu ertragen und daran zu wachsen: Den Tod des eigenen Kindes.<p>Auch für Jacqueline ist es nicht einfach, davon zu erzählen. Sie hat sich gut vorbereitet, viele ihrer Gedanken auf Zetteln festgehalten. Sie schluckt oft, macht lange Nachdenkpausen. Aber sie weint nicht. Sie will, dass ihre Geschichte hinausgetragen wird. Sie will anderen Menschen in einer ähnlichen Situation helfen. Sie will vor allem kein Mitleid. Die 35-Jährige ist ausgebildete Pflegekraft, sie weiß Diagnosen zu deuten und kennt sich im Krankenhausbetrieb aus.<p>Am 23. Juni 2015 kam ihr Sohn per Kaiserschnitt auf die Welt, sechs Wochen zu früh, in der 34. Schwangerschaftswoche. Während sich Jacqueline noch von der Narkose erholte, erfuhr sie zum ersten Mal, dass mit dem Kleinen etwas nicht stimmte. Er wurde sofort nach der Entbindung auf die Neugeborenen-Intensivstation des Spitals gebracht, er lag im Brutkasten und musste beatmet werden.<p>
Glasknochenkrankheit
<p>"Ich war sehr müde, traurig, schwach und wütend auf einfach alles, was geschah", erzählt Jacqueline, "ich war die ganze Zeit in einem Gedankenkarussell, aber trotzdem habe ich irgendwie funktioniert". Der wenige Tage alte Säugling musste eine Untersuchung nach der anderen über sich ergehen lassen, die Ärzte taten sich schwer mit einer Diagnose.<p>"Eines Sonntagnachmittags hatten wir dann ein Gespräch mit den Ärzten. Wir haben wirklich gespürt, wie schwierig es für sie war, sich auszudrücken." An diesem Tag schwand für die Familie alle Hoffnung. Bis heute ist die Diagnose nicht endgültig geklärt, aber es bestand ein hochgradiger Verdacht, dass der kleine Don-Chris an einer schweren Form der Glasknochenkrankheit - Osteogenesis Imperfecta - litt, einer sehr seltenen Erbkrankheit, die in den unterschiedlichsten Schweregraden vorkommen kann und nicht heilbar ist.<p>Vom Moment der vorsichtigen Diagnose an war der Familie klar, dass ihnen nicht viel Zeit mit Don-Chris vergönnt sein würde. "Also haben wir verzweifelt versucht, jeden Tag mit ihm zu genießen." Das war nicht leicht, schließlich kreisten Jacquelines Gedanken ständig um die Frage, wie lange ihr Sohn noch durchhalten würde und wie es ihm ging.<p>Auch Don-Chris’ Schwestern, die achtjährige Emma und die zweijährige Chy Chy, mussten versorgt werden. Aber "Don-Chris war ‚Love‘, er brachte noch mehr Liebe in unsere Familie", sagt seine Mutter heute - denn durch ihn bekamen die Weises auch sehr viel Unterstützung: Bekannte auf der ganzen Welt meldeten sich, Freunde kümmerten sich um die Töchter oder brachten Essen, Nachbarn boten ihre Hilfe an, eine Gemeinschaft entstand. Auch im Spital, bei Don-Chris, wollte Familie Weise das Leben feiern - sie ließen ihn inmitten der Schläuche und Geräte der Intensivstation taufen.<p>"Über all der Geschäftigkeit hätten wir das fast übersehen, aber eine Bekannte hat mir geschrieben: ‚Vielleicht ist es ihm nicht gegönnt, lange bei uns zu sein, aber er ist da.‘ Das hat mir sehr gut getan. Wir haben dann auch gesagt: ‚Ja, er ist ein Geschenk, heißen wir ihn willkommen.‘" Und mittendrin in all den Sorgen war der Tauftag ein wunderschöner Hochsommertag.<p>"Ich habe mir nur gedacht - hey, Don-Chris hat auf diesen Tag gewartet." Alle waren da: Freunde, Bekannte, Familie, das Neonatologie-Team, Momo-Mitarbeiter. Die große Schwester Emma durfte die Kerze halten und anzünden. Auch für die Geschwister war diese Zeit nicht einfach, Emma fragte immer nach, ob "Dony" wieder gesund werden würde. Darauf antwortete Jacqueline: "Manche Menschen werden 100 Jahre alt, manche leben nur einen Tag, manche Wochen."<p>
Ausnahmesituation
<p>Aber Emma war immer überzeugt davon, dass ihr kleiner Bruder es schaffen würde und bald nach Hause gehen könnte. Oft legten sie sich Stoffwindeln ins Bett, die sie dann ins Krankenhaus brachten und wieder nach Hause - so war der kleine Bruder immer mit dabei und ein Teil von ihnen war bei ihm.<p>Nach 15 Tagen auf der Intensivstation durfte sie ihren Sohn das erste Mal in den Armen halten - eine Ausnahmesituation, auch für das Personal. Nur mit Mühe konnte man den kleinen Körper so bewegen, dass die vielen Kabel und Schläuche richtig positioniert blieben. "Die Schwestern wollten, dass Don spürt, wie wichtig er ist. Mit keinem Geld der Welt können wir uns dafür bedanken, man kann nur Danke sagen, indem man lächelt und es genießt", erinnert sich Jacqueline Weise an ihren "goldenen Moment". Und sie zitiert den wohl berühmtesten Satz der Hospiz-Pionierin Cicely Saunders: "Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben."<p>Halten, Kuscheln, Nähe - die Dinge, die für andere Eltern ganz normal sind, wurden für Familie Weise zu etwas Besonderem. Einmal konnte Jacqueline im Spital übernachten und das ganze Wochenende bei Don-Chris verbringen. Zuerst war sie ganz unsicher, sie wollte ihn nicht aus dem Zimmer mit den anderen Kindern nehmen. Doch dann rang sich die 35-Jährige dazu durch, "denn in meinem Herkunftsland, in Kenia, ist es so, dass man jemanden nicht alleine lassen darf, wenn er krank ist oder im Sterben liegt. Ich war dann bei ihm, damit er sich nicht alleine fühlt. Ich wollte ihm vermitteln: ‚Du leidest nicht alleine, mein Kind‘."<p>Natürlich litt die ganze Familie mit. Zwar waren sie davon überzeugt, dass Don-Chris keine Schmerzen hatte, und versuchten, jede Minute mit ihm zu genießen. Aber "ich war voller Stimmungsschwankungen, ich habe mich einfach verloren gefühlt, trotz all der Werkzeuge, die ich habe - als Pflegefachkraft, durch die Palliativausbildung, durch den Glauben", erzählt Jacqueline. Es ist der Glaube an Gott, der die Familie in der schweren Zeit über weite Strecken getragen hat: Es ist nicht schwer, alles in Gottes Händen zu lassen, aber es ist auch nicht leicht. Wir haben uns entschieden, alles in Gottes Händen zu lassen."<p>Auf den Fotos sieht man es ganz deutlich: Dem kleinen Sohn der Weises ging es von Tag zu Tag schlechter. Auch nach einigen Wochen wurde er voll beatmet, es war nicht in Sicht, dass er jemals selbstständig würde atmen können. Ein Organ nach dem anderen funktionierte nicht mehr. Die Ärzte führten mit den Eltern ein sogenanntes ethisches Gespräch über die medizinischen Chancen ihres Sohnes.<p>Normalerweise ist der Wille des Patienten das oberste Gebot für einen Arzt - jeder Mensch darf jede Behandlung ablehnen, und sei sie noch so vernünftig. Bei Minderjährigen haben die Eltern das letzte Wort, normalerweise klammern sie sich an jeden medizinischen Strohhalm und versuchen verständlicherweise, ihr Kind so lange wie möglich am Leben zu erhalten, auch wenn es schon längst keine Chance mehr zu sehen gibt.<p>Bei Familie Weise war es anders. Während die Ärzte sich noch an der Technik festhielten, wollten die Weises ihren Sohn gehen lassen. Obwohl die Entscheidung alles andere als einfach war. "Wir haben bei dem ethischen Gespräch die Dinge beim Namen genannt, und dann entschieden, dass wir die Geräte abschalten."<p>Später, zu Hause, fragten sie sich: "Machen wir das Richtige? Wir sind gläubige Menschen, wir dürfen doch nicht töten." In diesem Dilemma revidierten die Weises ihren Beschluss noch einmal.<p>Es folgten viele Gespräche mit Ärzten, Freunden und Pflegern. Doch niemand konnte ihnen die Entscheidung abnehmen. "Mach es nach deinem Bauchgefühl", sagte ein befreundeter Arzt. Das Bauchgefühl sagte ihr: "Es hat keinen Zweck, einen Menschen um jeden Preis am Leben zu halten, wenn die Seele loslassen will. Dann habe ich angerufen und gesagt, ‚morgen um zwei Uhr kommen wir.‘" Die Entscheidung war auch körperlich kaum zu ertragen. In der Nacht litt Jacqueline plötzlich unter wehenartigen Schmerzen und bekam Blutungen.<p>Und dann kam der Tag. Niemand wusste, was sie vorhatten, aber wie durch Zufall war das Haus voller Freunde. Jacqueline und Daddy stiegen wie mechanisch ins Auto ein, hörten Musik. "Geboren, um zu leben" von "Unheilig". "Und dann sind wir aus dem Auto ausgestiegen, haben uns so stark, wie wir konnten, bei den Händen festgehalten und uns angeschaut und gesagt: ‚Der liebe Gott hat uns das zugemutet, wir werden das schaffen. Wir haben genug geweint, das ist nicht die Zeit zu weinen, sondern es ist Zeit, uns zu freuen, denn unser Kind wird nie wieder Schmerzen haben.‘"<p>Sonntag, der 19. Juli 2015. Auf der Neugeborenen-Intensivstation waren an diesem Tag nur wenige Besucher. Jacqueline und Daddy wurden in ein kleines privates Zimmer geführt. "Diese Farben werde ich nie vergessen: ein warmes Gelb an den Wänden und die Decke war blau wie der Himmel", erzählt Jacqueline. Dann ließ das Krankenpersonal den Weises Zeit mit ihrem Sohn. Auch die Hebamme, die ihm auf die Welt geholfen hatte, war da. Der Oberarzt, der bei der Geburt dabei war, würde nun die Maschinen abschalten.<p>
Bilder für Don-Chris
<p>"Ich habe gespürt, wie schwer es dem Arzt fiel, weil er normalerweise dafür kämpft, dass die Kinder da rausgehen und weiterleben, das ist seine Welt. Wir haben ihn in eine andere Welt hineingebracht." Emma hatte Bilder für Don-Chris gemalt, die wurden noch im Spital ausgedruckt und ihm gebracht, auch die Stoffwindeln, die in den Betten seiner Eltern und Geschwister gelegen hatten, umgaben ihn jetzt. Don bekam Schmerz- und Entspannungsmittel. Als die Eltern dazu bereit waren, drehte der Arzt langsam den Sauerstoff zurück.<p>"Die Zeit verging schnell, aber doch auch langsam, ich kann mich genau erinnern an dieses Tick-Tack der Maschine. Da sind wir gestanden, Mama, Papa und das ganze Team, das auch bei der Geburt dabei war. Um 15.25 Uhr schlief unser Sohn friedlich für immer ein. Wir hielten ihn auf dem Arm und sagten ihm, dass er gehen darf. ‚Mama und Papa werden viel weinen, aber das ist Deine Reise, Du darfst sie beginnen.‘ Es war plötzlich so ein Gefühl von Frieden im Raum, so einen Frieden habe ich bis jetzt sehr, sehr selten in meinem Leben gehabt. Eine sonderbare Stille."<p>Als Jacqueline ihre Geschichte fertig erzählt hat, breitet sie auf dem Boden eine Decke auf und legt die Erinnerungen an ihren Sohn darauf: Einen Stoffteddy, eine kleine Wollhaube, bunte Wollsocken, Stoffwindeln, winziges medizinisches Zubehör, eine Flasche mit Aromaöl. Dazu hören wir das Lied, das Daddy für die Beerdigung ausgesucht hat: "Born to amuse, to inspire, to delight. Here one day. Gone one night. Like a sunset dying with the rising of the moon. Gone too soon", singt Michael Jackson.<p>Daddy zeigt mir Fotos vom Begräbnis. Neben der kleinen weißen Urne steht ein Stofftier. Familie Weise trauert, aber in dieser Trauer ist viel Hoffnung, viel Leben. Bevor ich gehe, zeigt mir Jacqueline eine DVD mit zusammengeschnittenen Bildern. Die Schwangerschaft, die kleine Tochter Chy Chy, wie sie den Kugelbauch der Mutter bewundert. Die Kaiserschnittnarbe. Bilder von der Taufe - die Mädchen, wie sie am Weg ins Spital in ihren wunderschönen Sommerkleidern fröhlich lächelnd in der U-Bahn sitzen. Das High-Tech-Intensivbett, über das das viel zu große Taufkleid gelegt wurde. Dazwischen, verschwindend klein und friedlich, Don-Chris. Sein letzter Tag auf Erden, voller Schläuche, um ihn herum die Bilder, die seine große Schwester für ihn gemalt hat. Sein Vater hält ihn. Dann das letzte Bild. Endlich ohne Kabeln. Sein Vater hält ihn immer noch. "Wir sind überzeugt davon, dass es ihm jetzt besser geht. Er darf frei sein und ein kabelloses Dasein führen", sagt Jacqueline Weise.
Katharina Schmidt, geboren 1983, ist seit 2006 Innenpolitik-Redakteurin bei der "Wiener Zeitung".