Zum Hauptinhalt springen

Warum der Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit für die Börsen entscheidend ist

Von Harald Waiglein

Analysen

Risiken lassen Investoren üblicherweise keine grauen Haare wachsen, Unsicherheit jedoch schon. Risiken sind kalkulierbar: Aus der Häufigkeit, mit der ein Ereignis in der Vergangenheit eingetreten ist, lässt sich die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der es in Zukunft auftreten wird. Solche Wahrscheinlichkeiten sind mathematisch und finanziell bewertbar.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Geht es jedoch um Extrem-Ereignisse, die bisher vielleicht nur einmal oder überhaupt noch nie eingetreten sind (zum Beispiel das Attentat auf das World Trade Center, ein weltweiter Ausfall des Internet oder eine von Terroristen gezündete Atombombe), dann lassen sich für diese aufgrund mangelnder Daten keinerlei mathematische Wahrscheinlichkeiten errechnen. Hier geht es nicht um berechenbare Risiken, sondern um unberechenbare Unsicherheit.

In einer solchen Situation befinden sich die Kapitalmärkte jetzt. Niemand kann genau sagen, wer auf wertlosen Schuldverschreibungen sitzt. Es ist nicht einmal klar, wie groß das Problem überhaupt ist: Die Schätzungen über den potentiellen Schaden, den die US-Hypothekenkrise anrichten könnte, reichen von 50 bis 500 Milliarden Dollar.

Kein Mensch weiß, wie lange die Immobilien-Preise in den USA noch fallen werden, wie viele Darlehensnehmer das noch in die Zahlungsunfähigkeit treiben könnte, und wieviele durch Hypotheken besicherte Schuldverschreibungen in den Tresoren der Banken in weiterer Folge dadurch wertlos werden. Das führt dazu, dass Investoren auf Nummer sicher gehen wollen und erst einmal ihr Geld überall dort abziehen, wo Probleme auftreten könnten.

Risiko-Verschiebung

Die Finanzwelt war in den letzten Jahren extrem erfindungsreich beim Verteilen von Risiken: Banken haben risikoreiche Hypothekar-Darlehen vergeben, das Risiko dieser Darlehen in Wertpapiere gegossen, diese Wertpapiere mit anderen, weniger risikoreichen vermischt, in neuen Wertpapieren zusammengefasst und an andere Banken weiterverkauft. Jetzt, wo die zugrundeliegenden Darlehen ausfallen, weiß kein Mensch, wo im Finanzsystem das dazugehörige Risiko gelandet ist, und wer eigentlich am Ende des Tages die Rechnung bezahlen muss. Wie groß diese Unsicherheit ist, zeigt ein einfaches Rechenbeispiel:

Ein vermögender Investor kann heute mit einer Million Euro jederzeit weitere drei Millionen an Krediten für Investitionen erhalten. Diese vier Millionen Euro könnten in einen Dachfonds investiert werden, der ebenfalls das Dreifache zusätzlich an Krediten aufnehmen kann. Der Dachfonds investiert vielleicht in einen Hedgefonds, der ebenfalls Schulden aufnimmt. Und möglicherweise kauft der Hedge-Fonds dann ein Bündel risikoreicher Hypothekar-Darlehen.

So kann aus einem Startkapital von einer Million Euro ein investiertes Kapital von 100 Millionen Euro werden, von denen 99 Millionen über Schulden finanziert sind.

Solange der Wert der Investition nicht fällt, ist alles in Ordnung. Sobald der Wert aber um mehr als ein Prozent fällt und somit die eine Million Eigenkapital verschwunden ist, ist die Katastrophe da. Dann wird nämlich eine Schuldenrückzahlungs- und Zahlungsunfähigkeits-Spirale ausgelöst, die in Ansätzen der jetzigen Krise bei US-Hypothekar-Darlehen gleicht.

Angesichts solcher Unsicherheiten vergißt allerdings so mancher, dass die Weltwirtschaft derzeit so gut läuft wie schon lange nicht mehr. Wir sind weit von einer Wirtschaftskrise entfernt. Was wir haben, ist lediglich eine Vertrauenskrise.