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"Willkommen in Ihrem neuen Land" - so begrüßte mich vor mehr als zwölf Jahren eine äußerst freundliche Grenzpolizistin. Recht hatte die Dame, denn als Tourist verweilte ihr Gegenüber nur kurz. Später allerdings wurde die Türkei in der Tat meine permanente - auch berufliche - Heimat. Aber ebenso politisch hatte mich das Land angezogen, nicht nur privat: Der neue Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan versprach eine viel demokratischere Türkei.
Zwei Jahre zuvor hatte nämlich seine AK-Partei im November 2002 die Wahlen haushoch gewonnen; die türkischen Wähler hatten es augenscheinlich satt, dass die Überbleibsel einer vormaligen Militärdiktatur 22 Jahre nach 1980 immer noch ihr Leben bestimmten. Hinzu kam ein beinahe totaler ökonomischer Zusammenbruch.
Der von Erdogan inspirierte Aufbruchsgeist war einfach ansteckend. Ich nenne es das "Bolu-Prinzip", nach einer aufstrebenden Mittelstandsstadt im Grünen zwischen Ankara und Istanbul. Ich habe dort mit meiner Familie gelebt. Den Bürgern ging es besser und besser. Die Nettoeinkommen stiegen rasant, das Land transformierte sich von einem Teile-Zulieferland zu einem Qualitätsendprodukte-Anbieter. Eine Durchschnittswohnung umfasste drei schöne Zimmer plus Küche, Bad und Wohnzimmer, immer mit Balkon oder Terrasse. Der Autokauf wurde auch für jene möglich, die vorher zu Fuß zur Arbeit gegangen waren. Es gab fantastische Schulen, eine moderne Campus-Universität. Die Türkei wurde zum Pionier in Bezug auf energiesparende Passivhäuser. Tradition gepaart mit Moderne - der Mittelstand erblühte in Bolu.
Nicht mehr ein Spielball externer Kräfte
Seit 2003 war die Türkei Jahr für Jahr mächtiger geworden, einflussreicher, nicht mehr der Spielball externer Kräfte. Und genau da liegt ja das Problem im Westen: Wie geht man mit einer selbstbewussten Türkei um?
Während der Gezi-Park Proteste 2013 wurde dies auf einen Schlag allen Türken deutlich gemacht, allerdings anders als von der Bevölkerung erhofft: Die Phase des "Türkei-Bashings" begann. Ich kommentierte damals sarkastisch für die nationale Presse, dass CNN nur darauf warte, live von einer teuren Suite im oberen Stock des Marmara-Hotels die Proteste filmen zu können; ich neige dazu zu sagen: "Versuchter Regierungsumsturz mittels Fernsehen" - nur mit einem sehr schlechten Drehbuch.
Erdogan hat den normalen Menschen und Familien Glauben an sich selber gegeben, Vertrauen in ein post-militaristisches neues Selbst, das Wissen, das individuelles Unternehmertum erwünscht war und die sozialistische Monopolwirtschaft abgeschafft wurde.
Die vergangenen drei Jahre waren schwierig, auch für Erdogan, der im Juli 2016 ganz knapp mit dem Leben davonkam. Aber wenn die Mehrheit der türkischen Bürger jemandem zutraut, das Schiff wieder in sichere Häfen zu steuern, dann ist es mehr denn je Präsident Erdogan.
Erdogan wurde auch in Oppositionskreisen respektabel
Falls Sie als Leser meinen, ich sei auf der Oppositionsseite politisch farbenblind: Ich schätze mich glücklich, viele persönliche Kontakte zum Beispiel in der CHP oder unter der Leserschaft der Tageszeitung "Sözcü" zu haben. Normalerweise auf Anti-Erdogan-Kurs, hat sich hier in weiten Teilen etwas Bemerkenswertes getan: Die jüngsten so verabscheuungswürdigen Terrorangriffe, der Kampf gegen die PKK auch über die Grenzen hinaus, wenn türkisches Territorium in Gefahr ist, der Putschversuch im Juli und generell die kalte Schulter der EU gegenüber der Türkei haben auch in diesen Kreisen Erdogan respektabel gemacht, zumindest auf Einzelthemenbasis.
Und clever und schlau ist er halt auch, ein Machtpolitiker - so wie alle Politiker es im Westen doch auch gerne sind. Die Kemalisten mochten Erdogans Gegner Fethullah Gülen nie - also gibt es auch hier volle Unterstützung für seinen Kampf gegen Gülens Organisation seitens jener Wählergruppe, die normalerweise Erdogan ablehnt. Aber manche Politiker im Ausland wollen (oder dürfen?) das offenbar nicht sehen.
Zum Autor
Klaus Jürgens
hat zwölf Jahre lang in der Türkei gelebt und gearbeitet, zunächst als Universitätslektor für Betriebswirtschaftslehre, KMU Strategic Ventures und Europarecht für Unternehmer, dann als Journalist.