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"Warum habe ich überlebt?"

Von Irene Dulz

Gastkommentare
Irene Dulz leitet das Care-Büro im Nordirak.

Ein Jahr nach der Vertreibung von Jesiden, Christen und anderen Minderheiten im Irak sind noch immer Millionen auf der Flucht.


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Vor einem Jahr hielten die Bilder des Leids im Irak die Welt in Atem. Sie zeigten Menschen, vor allem Jesiden, Christen und andere Minderheitengruppen, die aus ihrer Heimat Sindjar, einer abgelegenen Bergregion nahe der irakisch-syrischen Grenze, geflohen waren. Zehntausende mussten durch Staub, Sand und Hitze zu Fuß fliehen - auf dem Arm die Kinder, Alte und Verletzte auf dem Rücken. Sie gingen tagelang, ohne ein Ende in Sicht.

August 2014: Unzählige Menschen finden in Zakho im Nordirak in einem unmöblierten Haus Unterschlupf. Toiletten, Strom und Fließwasser gibt es nicht. Die Atmosphäre ist dunkel, beinahe unheimlich. Ich habe mich oft gefragt, was diese Menschen auf der Flucht durchgemacht haben müssen, dass ihnen diese apokalyptische Umgebung Schutz verspricht.

Hadi ist ein jesidischer Teenager. Er erzählt mir seine persönliche Geschichte: Eines Tages fielen bewaffnete Truppen in seinem Heimatdorf ein und befahlen den Bewohnerinnen und Bewohnern, sich in einer Reihe aufzustellen. Er hörte Schüsse und sah aus dem Augenwinkel, wie Leute zu Boden gingen. Die Getöteten wurden in einen Graben geworfen. Dann verlor Hadi das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, lag er zwischen den Toten, die ihm das Leben gerettet hatten. Auch sein Vater und seine Brüder lagen regungslos neben ihm.

Als er mir die Geschichte erzählt, sieht Hadi mit festem Blick auf den Boden und spielt nervös an seiner Hose herum. "Warum habe ich überlebt?", fragt er mich verzweifelt.

Ich finde keine tröstenden Worte.

Ein Jahr später, August 2015: Viele Menschen sind traumatisiert und können nicht vergessen, was sie sehen und erleben mussten. Im Bersive Camp nahe der türkisch-irakischen Grenze schlafen die Leute auf dem Steinboden. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch gefährlich. Mütter sorgen sich um ihre Neugeborenen, die im Schlaf von Skorpionen gestochen werden könnten.

Weil Geldmittel fehlen, können keine besseren Unterkünfte für die Flüchtlinge gebaut werden. Die internationale Hilfe ist massiv unterfinanziert. Die Bedrohung durch Gewaltangriffe beherrscht nach wie vor das Leben in der Region. Laut UNO-Angaben benötigen mehr als acht Millionen Menschen im Irak Hilfe, Flüchtlinge und Gastfamilien. Und trotzdem gibt es diesen Hoffnungsschimmer hier in der kurdischen Region: Die Kinder gehen in den Camps wieder zur Schule. Märkte sind entstanden, die Bewohnerinnen und Bewohner können also Besorgungen machen und die wichtigsten Dinge zum (Über-)Leben einkaufen.

Ich erinnere mich an die unvorstellbaren Leidensgeschichten der Menschen. Diese Bilder werde ich nie wieder vergessen können. Vielleicht sind wir mittlerweile an die Kriegs- und Terrorgeschichten aus dem Irak gewöhnt. Aber die Menschen, die heute noch immer im Irak sind - und noch immer auf der Flucht -, brauchen dringend unsere Hilfe.

Vor einem Jahr tauchten die aus Sindjar Geflohenen flüchtig auf unseren Fernsehbildschirmen auf. Dort sind sie längst nicht mehr zu sehen - aber die Menschen sind noch immer auf der Flucht, und sie werden immer mehr. Ein neues Zuhause haben sie nicht gefunden.