Im Herzen wurde ich Wien nie untreu! Ich steh auf Punschkrapferln, Deix-Karikaturen, Haas-Krimis, die Kalasantiner-Kirche und auf Grillhaxen mit an Siaßen am Hohen Markt. | "Wie kann man denn von einer so schönen Stadt wie Wien in dieses hässliche Berlin ziehen?", werde ich immer wieder gefragt. Liebe und Beruf - meine Standardantwort. Sie ist nicht gelogen, aber erklärt nicht alles.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Da sind zuerst einmal die Gemeinsamkeiten zwischen meiner ersten und meiner Wahlheimat. Und deren gibt es viele. Beide Städte waren als imperiale Zentren gedacht und mussten sich erst mit der Profanität von Republiken arrangieren. Beide sind unheimlich beliebt: Wie die Wiener - sagen wir - in der Steiermark oder Tirol, so die Berliner in Sachsen oder Bayern. Beide sind krank: Wien ist der "Wasserkopf", Berlin hängt, weil aus eigener Kraft nicht lebensfähig, "am Tropf". Hört man dem Wiener an seiner "Goschen" an, von welchem "Grund" er ist, verrät der Berliner seinen "Kiez" an der unverwechselbaren "Schnauze". Beide Zentren liegen dezentral am Ostrand. Sogar die Stadtgrenzen ähneln sich topologisch, wobei Wien eine etwas "abgespeckte" Version darstellt - doch das war schon immer so: In Berlin muss alles größer sein.
Rundherum unbeliebt, Bewohner eines behäbigen Molochs auf tönernen Beinen, aber das Maul weit offen - das schweißt Wiener und Berliner auf Anhieb zusammen.
Auch Leid und Zerstörungen beider Weltenbrände des 20. Jahrhunderts haben wir gemeinsam. Ebenso die Rolle als Bundeshauptstadt ("Berlin erhöht die Steuern"), die Nähe zum Osten, die strategisch exponierte Lage an den großen europäischen Achsenkreuzen.
Da ist aber auch ein bestimmter städtischer Humor, der zwischen Zynismus und Selbstironie oszilliert, respektlos, deftig ohne abzugleiten, sprachverspielt und augenzwinkernd larmoyant. An Wortbildern ist das Berlinische nicht ärmer als das Wienerische. Wer sich beeilen muss, dem "qualmen die Socken". Vielleicht bin ich ein harmloses Gemüt, aber ich kann mir so etwas bildlich vorstellen. Wer in Wien einem Bramarbas in die Parade fährt, stoppt ihn mit einem "drah kan Fülm!" Ganz ähnlich der Rat eines Berliners für den Angeber: "Quatsch keene Opern!"
Freilich gibt es Unterschiede! Selbst der mürrischste Ober im Prater ist freundlicher als die Bedienung in jeder Kneipe. Gelogen wird überall; in Berlin allerdings weniger routiniert, durchschaubarer als in Wien. "Des moch ma scho!", heißt auf Hochdeutsch: "Es passiert nie!" Auf "ma sehen!" konnte ich mich hingegen immer verlassen. Heimat und Wahlheimat, Freundlichkeit und Ehrlichkeit - die Wahl fällt schwer.
Die Geschichte Wiens ist am Stadtbild ablesbar wie an den Jahresringen eines Baums. Wie die Stadt auf ihre Mitte orientiert ist, hat sie etwas Zentralistisches, um nicht zu sagen Monarchistisches bewahrt - von Kaiser Franz-Josef über Lueger bis Häupl. Die Geschichte Berlins aber ist unharmonisch, diskontinuierlich, pluralistisch und republikanisch. Alles kann, nichts muss.
Berlin ist hässlicher. Der durch die Ärzte-Soap bekannte "Bülow-Bogen" ist ein Musterbeispiel. An der Kreuzung zweier Verkehrsadern prägt ein pompöser Art-deco-Stadtbahnbogen die Silhouette. Rundum "aus jedem Dorf ein Hund", alle Stil- und Geschmacklosigkeiten der letzten hundert Jahre - überzogen mit einer Patina aus Rost und Dreck. Das quietscht im Auge. Und dennoch: Ein Sinnbild dieser zerrissenen, vergewaltigten und orientierungslosen Stadt. Hässlich, aber ehrlich.
Dieses Unprätenziöse, Unpathetische im Verein mit den meist verkannten preußischen Tugenden, die Gelassenheit im Umgang mit dem Andersartigen und Unvereinbaren, mit den verschiedenen Lebensformen, -stilen und -entwürfen, das lässt mich diese Stadt trotzdem lieben.