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Warum in der Welt doch Chaos herrscht

Von Eva Stanzl

Wissen

Chaosforscher James Doyne Farmer: Derzeit scheint das Weltgeschehen ähnlich erratisch wie Strömungen in einem Wasserfall.


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"Wiener Zeitung": Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Pandemie, drastische Folgen der Erderwärmung: Die Welt schlittert ins Chaos. Wie sieht es ein Chaosforscher?

James Doyne Farmer: Das Wort Chaos bedeutet für mich als Wissenschafter vielleicht nicht ganz dasselbe wie für Sie. Für mich geht es beim Chaos um sensible Reaktionen in Abhängigkeit von einer Ausgangslage. Ähnliche Ausgangslagen können dramatisch unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Nehmen wir das Wettergeschehen, wo kleine Varianzen am Ende zu großen Divergenzen führen, weswegen Prognosen plötzlich nicht mehr stimmen. Umgelegt auf die Weltgeschichte und Ihre Frage, kann man sehr wohl Pläne mit berechtigten Erwartungen an künftige Geschehnisse verknüpfen, aber nicht in allen Fällen geht das Kalkül auf.

Sind die Geschehnisse derzeit außergewöhnlich unvorhersehbar?

Es scheint so zu sein. Schon allein Covid-19 war eine zufallsartige Sache. Das Virus tauchte auf, hätte aber genauso gut drei Jahre später erscheinen können. Keine globalen Ereignisse trugen dazu bei, abgesehen vom allgemeinen Trend eines enger werdenden Kontakts zwischen Menschen und Wildtieren, was die Übertragung auf uns ermöglichte. Ähnlich ist es mit dem Krieg in der Ukraine: Wenn Putin nicht so geartet wäre, wie er geartet ist, hätte er die Ukraine nicht angegriffen, wären 200.000 Menschen noch am Leben und wären die Energiepreise viel niedriger.

Zusätzlichen Druck auf die Welt übt die politische Polarisierung zwischen links und rechts aus. In den USA etwa herrscht, was das betrifft, ein äußerst angespanntes Gefühl. Laut einer Erhebung des Complexity Science Hub Wien zur Quantifizierung der Geschichte anhand von Nachrichtenberichten hat die Polarisierung der Debatte heute das Niveau des amerikanischen Bürgerkriegs. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Stimmung vor der Übernahme der Macht durch das Nazi-Regime in Europa gar nicht so weit entfernt war.

Kommen wir zum Chaos zurück.

Es ist nicht das Gleiche, aber Anspannung und Druck können zu dramatischen Veränderungen führen. Auch das Phänomen Hitler war ja zufallsartig: Wenn er weniger charismatisch und weniger aggressiv in seinen Ambitionen gewesen wäre, hätte die Geschichte vielleicht einen anderen Lauf genommen. Das ist ein Beispiel für sensitive Anhängigkeiten von einer Ausgangslage: Eine einzige Persönlichkeit setzte sich in kurzer Zeit durch und das hatte Riesen-Auswirkungen auf die Weltgeschichte.

Auch ein Asteroid würde beim Aufprall auf die Erde einiges verändern. Was ist der Unterschied?

Die Auswirkungen eines Impakts kann man berechnen - Entwicklungen, die die Weltordnung gefährden, nicht. Wir leben in einer Zeit, in der wir Symptome wie die Polarisierung zwischen rechts und links sehen, und in einer Zeit der konvergierenden Faktoren des Klimawandels, Chinas Aufstieg zur Weltmacht und Russlands, das die Welt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen bedroht. Das erzeugt ein Unbehagen. Es könnte in unerwartete Richtungen führen - oder wieder abflachen und verschwinden.

Auf der anderen Seite wissen wir, worauf wir uns einlassen. Es gab ja schon Pandemien und Kriege.

Das stimmt, doch als Sars-CoV-2 die Bühne betrat, war keineswegs klar, welche Sorte Pandemie dieses Virus erzeugen würde. Zwar stellte sich heraus, dass es weniger tödlich ist als angenommen. Aber dennoch mussten wir vorübergehend ziemlich aufwendige soziale Innovationen umsetzen, deren Auswirkungen auf Psyche und Politik wir nicht kannten. Die Stimmung polarisierte sich und das erzeugte Turbulenzen. Das Chaos führt zu Turbulenzen. Es geht nicht nur um sensible Reaktionen, sondern auch um eine Bewegung, die durch äußere Umstände herbeigeführt wird, jedoch aus dem Nichts zu kommen scheint.

Wie darf man sich das vorstellen?

Nehmen wir einen Wasserfall. Er verändert sich ununterbrochen. Aber wer erzeugt diese Veränderung? Die Felsen bleiben, wo sie sind, der See sieht immer gleich aus, aber plötzlich spritzt es. Das Muster ändert sich scheinbar aus dem Nichts, wir werden nass, die Strömungen ändern sich ständig. Nur geübte Kajakfahrer können darin navigieren.

Sind derzeit beide Voraussetzungen für Chaos gegeben?

Es fühlt sich so an! Aber aufpassen: Jede Generation ist anfällig dafür, zu glauben, dass sie in außergewöhnlichen Zeiten lebt. Wir neigen außerdem zu bestimmten Formen von Pessimismus. Etwa wurde für den Brexit aus einer Nostalgie, wonach früher alles besser war, gestimmt. Daran, dass die guten alten Zeiten schlechter waren, als wir heute meinen, wurde nicht gedacht. Zukunftssorgen können zu einem Dauerzustand werden, selbst wenn nichts wirklich Besorgniserregendes passiert. Gleichwohl ist die Anspannung in vielen Teilen der Erde ganz real. Viele Fragen könnten sich reibungslos lösen. Etwa, indem man in der Ukraine Frieden schließt. Oder indem wir bei der Eindämmung des Klimawandels weiterkommen, weil Sonnen- und Windenergie einfach billiger werden. Aber es könnte auch anders herauskommen.

Zur Person~