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Thilo Sarrazin hat ein paar Stehsätze, die er seinen Kritikern entgegenwispert. "Sie haben ja mein Buch gar nicht gelesen", gehört dazu. Wenn das Gegenüber das Gegenteil versichert, wird der Satz abgewandelt: "Dann haben Sie es nicht richtig gelesen."
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Dabei ist es zurzeit gar nicht so leicht, den Inhalt des Buchs "Deutschland schafft sich ab" zu überprüfen. Es sofort zu erwerben, scheitert an der Wartezeit. Der Marketing-Coup ist jedenfalls gelungen.
Offenbar kann das Buch aber wirklich auf zweierlei Arten interpretiert werden: entweder, wie von der Politik, als wenig hilfreicher Zuruf über die mangelnde Integrationsfähigkeit von Muslimen, der an Rassismus grenzt; oder als Beschreibung realer Zustände in bestimmten Vierteln deutscher Städte, wo Parallelgesellschaften existieren, die sich mit ihrem Bekenntnis zu fremder Nationalität und zum Islam bewusst von der deutschen Gemeinschaft abgrenzen.
In den vielen Talkshows, in denen Sarrazin nun auftritt, findet er durchaus Zustimmung. Das trifft sich mit Umfragen, wonach rund die Hälfte der Deutschen die Angst plagt, zu Fremden im eigenen Land zu werden. Es sind hoffentlich die wenigsten von ihnen der Ansicht Sarrazins, dass die genetischen Faktoren an der Andersartigkeit der Migranten schuld sind. Dass die kulturellen Unterschiede aber Unbehagen erregen, ist offensichtlich.
Zu dieser Erkenntnis hätten wir Sarrazin nicht gebraucht, argumentieren seine Kritiker. Schließlich habe Deutschland längst seine Anstrengungen bei der Integration verstärkt, seit viel zu spät erkannt wurde, dass die als Gastarbeiter Geholten gewillt waren, sich hier dauerhaft niederzulassen. Und sie verweisen auf die vielen Beispiele von Migrantenkindern, die sich erfolgreich in Politik und Wirtschaft etabliert haben.
Das Problem dabei: Außer bei der Fußball-Nationalmannschaft, bei der die "Fremdstämmigen" durchaus für Begeisterung sorgen, sehen viele Bürger nur die Probleme in der nächsten Nachbarschaft. Dort tummeln sich meist die nicht Erfolgreichen, die Unterschicht, die aufgrund mangelnder Bildung keine Aufstiegschancen und oft keinen Job hat. Diejenigen, denen mangelnder Integrationswille bescheinigt wird, werden meist selbst ausgegrenzt.
Sarrazins elitäre Pauschalverurteilungen, verstärkt durch Islamophobie, verdecken diesen Umstand und fördern den simplifizierenden Blick. Nicht nur die rechtsextreme NPD hat Sarrazin schon zur Mitarbeit in ihren Reihen aufgefordert. In Österreich hat der steirische FPÖ-Spitzenkandidat proklamiert: "Sarrazin statt Muezzin." Die Ursachen sind ähnlich: Auch in Österreich wurde eine wirkungsvolle Integrationspolitik lange vernachlässigt. Ein Bekenntnis zu den Fehlern der Vergangenheit wird hierzulande freilich vermisst.
Siehe auch:Sarrazin wird abberufen