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Warum sich im Herbst die Blätter verfärben

Von Frank Ufen

Wissen

Wird es zu kalt, wird kein Chlorophyll mehr produziert. | Zur Verfärbung gibt es unterschiedliche Theorien der Forscher. | Marne/Schleswig-Holstein. Warum die meisten Bäume und Sträucher im Herbst ihre Blätter abwerfen, ist leicht zu erklären. Sie können dadurch verhindern, dass sie im Frost des Winters vertrocknen. Doch kurz bevor die Blätter absterben, leisten sie sich den Luxus, sich zu verfärben und eine verschwenderische Fülle von Braun-, Gelb-, Orange-, Rot- und Purpurtönen zur Schau zu stellen.


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Auf die Idee, dieses Farbenspektakel könnte irgendeine Funktion haben, ist vor einigen Jahren der große britische Evolutionsbiologe William Hamilton gekommen. Mittlerweile konkurrieren zwei Hypothesen um die Erklärung für den extravaganten herbstlichen Farbenzauber. Nach der einen soll er dazu dienen, schädliche Insekten abzuwehren. Nach der anderen besteht sein Sinn und Zweck darin, die Bäume und Sträucher an kühlen Tagen vor zu starker Sonnenstrahlung zu schützen.

Bevor die Bäume und Sträucher ihr Laub abwerfen, stellen sie die Produktion von Chlorophyll ein - des grünen Farbstoffs, den sie für die Energiegewinnung durch Photosynthese benötigen. Ist das Chlorophyll schließlich abgebaut, werden Farbstoffe sichtbar, die es sonst überdeckt: gelbe und orangefarbene Carotinoide und Xanothophylle.

Zwecks Sonnenschutz?

Die Brauntöne hingegen zeigen sich immer dann, wenn Zellen abgestorben sind. Es fehlen noch die roten und purpurfarbenen Töne. Mit ihnen hat es eine besondere Bewandtnis. Die diese Rotfärbung hervorrufenden Pigmente - Anthocyane - werden nämlich von den Bäumen und Sträuchern im Herbst selbst hergestellt. Der beträchtliche Energieaufwand, den das erfordert, lässt darauf schließen, dass eine biologische Funktion dahinterstecken muss.

Obwohl Bäume und Sträucher reichlich Licht benötigen, können sie von ihm nur noch geringe Mengen verkraften, sobald die Photosynthese gehemmt wird. Gehemmt wird sie in den herbstlichen Morgenstunden durch zu niedrige Außentemperaturen. Unter solchen Umständen wird das Sonnenlicht vom Chlorophyll nicht mehr in Energie verwandelt. Statt dessen führt das Licht zur Entstehung von freien Radikalen, die das Blattgewebe immer weiter zerstören. In den Augen des Freiburger Biologen Martin Schaefer spricht vieles dafür, dass das rot-bunte Herbstlaub als Schutzschild gegen schädliches Sonnenlicht wirkt und darüber hinaus dazu dient, mit dem übrig gebliebenen Chlorophyll länger Energie erzeugen zu können. "Die Anthocyane, also die roten Blattfarbstoffe", erklärt Schaefer, "wirken ähnlich wie die UV-Filter in Sonnenschutzcremes."

Die Sonnenschutz-Hypothese macht verständlich, warum Blätter, die im Schatten liegen, oft nur blass-rot oder blass-gelb gefärbt sind. Und sie macht außerdem verständlich, warum es in Neu-England während des Herbstes zur Farbenorgie des Indian Summer kommt. Weil es dann für die Bäume und Sträucher nachts schon empfindlich kühl ist, während sie tagsüber von Sonnenlicht geradezu überflutet werden.

Zur Insektenabwehr?

Nicht weniger schlüssig ist allerdings die Insektenabwehr-Hypothese, deren wichtigster Verfechter Marco Archetti ist - ein schweizerischer Zoologe, der gegenwärtig an der Universität Oxford forscht. Seiner Auffassung nach ist das grell gefärbte Herbstlaub das Ergebnis der Koevolution von parasitären Insekten und den von ihnen bedrohten Pflanzen.

Läuse beispielsweise haben die schlechte Angewohnheit, ihre Eier im Herbst auf Bäumen und Sträuchern abzulegen. Aus den Eiern schlüpfen im Frühjahr hungrige Larven, die sich sofort über die jungen Blätter hermachen. Um zu verhindern, dass es so weit kommt, verwenden die Bäume und Sträucher laut Archetti grelle Farben als Warnsignale.

Nützliche Warnsignale

Dabei gilt: Die Blätter der kräftigsten und genetisch fittesten Bäume und Sträucher sind in aller Regel auch diejenigen, deren Farben am intensivsten leuchten und die noch dazu am besten mit giftigen Abwehrstoffen gegen Schädlinge ausgerüstet sind. Die Blattläuse wiederum verstehen die Signale und ziehen es vor, ihre Eier anderswo abzulegen. Und deswegen, behauptet Archetti, sind die Warnsignale für beide Seiten nützlich: "Blattläuse sollten keine Eier auf besonders farbenprächtige Bäume ablegen, weil ihre Nachkommen im Frühjahr wenig Freude mit diesem abwehrbereiten Baum hätten."

Um seine Annahmen empirisch zu überprüfen, hat Archetti kürzlich vergleichende Untersuchungen an wilden und kultivierten Apfelbäumen durchgeführt. Er berichtet über seine Befunde in der neusten Ausgabe der "Proceedings of the Royal Society B".

Marco Archetti hat festgestellt, dass von den 2170 Arten von Zuchtapfelbäumen in Großbritannien lediglich 2,8 Prozent rote Herbstblätter hervorbringen. Bei den Wildformen, die immer noch in Kirgisien und Kasachstan wachsen, sind es hingegen 62,2 Prozent. Offensichtlich können kultivierte Apfelbäume auf den herbstlichen Farbenzauber verzichten, weil Menschen ihnen seit langem die Läuse und andere Parasiten vom Leibe halten.

Archetti hat sich außerdem mit dem von allen Apfelbauern gefürchteten Feuerbrand beschäftigt, der ebenfalls von Läusen verursacht wird. Tatsächlich zeigte sich, dass die Apfelsorten, die am häufigsten ihr Blattwerk rot färben, für diese Krankheit am anfälligsten sind.

Trotz dieser Befunde ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es ist ohne weiteres möglich, dass die Sonnenschutzhypothese ebenso richtig ist wie die Signalhypothese, und dass es bloß noch darum geht, beide miteinander zu kombinieren.